Saturday, October 07, 2006

Fall ins Kristall

Today was a good day. As if to keep alive the ever-meandering
stream of life between the darkest and the lightest hours of our
lives, it is exactly today that I would like to pay tribute to the
darker sides. Maybe it is them that keep me alive? As I wrote in
the darkest hour in May 2006:


Variationen über den Fall ins Kristall

„Kalte Persona – Im Bauch des Fisches“
Helmut Lethen

„We're like crystal, we break easy
I'm a poor man, if you leave me”
New Order

1

Fall ins Kristall. Wenn sich die Welt um Dich schließt. Wenn Du ganz ohne eigene Tätigkeit versinkst. Wenn alles zumacht. Der Fall ins Kristall. Die Temperatur sinkt, und sinkt, und sinkt.

Es ist eine Nachricht, eine Erkenntnis, die sich einschleicht. Es ist nicht, gar nicht, der Schlag, der plötzliche Schock, der Dich heimsucht. Es ist das erst unmerkliche, dann leicht beschleunigte Herunterkühlen der Welt um Dich. Wo erst noch Bewegung, Rauschen, wohliges Tummeln ist, wird es bald jedem Molekül zu kalt.

Schmerz, also, könnte die Abwesenheit von Bewegung sein. Kann das sein? Eigentlich nicht, vermutlich eher: ist Schmerz ein Maß der Änderung. Der Fall ins Kristall selbst, also: der Fall, ist es, der reißt, der schmerzt.

Ich kannte einmal eine junge Assistenzärztin, die ihren Probanden Schmerz zufügte durch Temperatursturz, wenn auch eher plötzlichen. Aber die Zeitkonstanten mögen anders sein an der Peripherie, am Zeigefinger, und im Zentrum, im Selbst.

2

Fall ins Kristall. Feels like crystal. Kristallin: Du selbst, und jedes Teil von Dir, minimiert die Reibung mit den Nachbarn, also den Anderen, und den anderen Teilen des Selbst; nur sich nicht bewegen, nur nichts entscheiden, auch: nur nichts ändern, nicht noch mehr. Wenn schon keine Umkehr möglich ist, dann wenigstens auch bitte kein Fortschreiten, kein Verschieben mehr; lass mich, ich muss so sein, jetzt, allein, und also tragisch: starr. Wenn diese Trauerstarre ihre Funktionalität einbüsst, nach Tagen, Wochen, dann bleibt die Kälte als natürliche Folge der ruhenden Daseins-Moleküle, denen als einziger Weg den Kontakt untereinander zu minimieren nur der Stillstand blieb.

3

Fall ins Kristall. Kein Gleiten, kein Schweben, kein Steuern, der freie Fall. Dies war die letzte Bewegung die dem Wesen zuteil wurde. Sturz aus zu sicher geglaubten Höhen; Druckabfall zuerst, dann ein Loch im Fenster hinten links. Ein kurzer Impuls, der Dich zu und dann aus diesem Ausweg zerrt; und draußen nur noch Kälte, und Dein durch die eigene Masse ermöglichter Sturz ins Ungewollte, ins Schwarze und höchstwahrscheinlich auch Tödliche. Deine relative Bewegung, rasend durch die paradoxe Hölle der minus sechzig Grad, friert das Leben von außen kommend ein, drängt es erst zurück, kesselt es ein, wünscht ihm den Tod und bringt diesen schließlich mit ihren un-fassbaren Temperaturen. Die letzten Lebensgeister sammeln sich in Kleingruppen, und verschanzen sich, graben sich ein wo sie noch können und schießen scharf auf alles. In Strukturen des Limbischen Systems, in der Faust, in der Zunge vielleicht. Sie schießen, und merken gar nicht, dass dies auch nichts mehr hilft, die Kälte kriecht auch ihnen durch die Stiefel, und die Finger werden ihnen an ihren armseligen kleinen Faustfeuerwaffen festfrieren, schließlich.

4

Fall ins Kristall. Die Matrosen werfen ihn über die Brüstung. (Sie wussten sich nicht anders zu helfen, und glaubten dem Los dann doch nur zu gerne, dass es an ihm gelegen haben könnte; und hatte er sie nicht sogar gebeten, ihn zu werfen, auf dass der Sturm ende?) Und wo die ersten Meter durch das Salzwasser im Schock der nasskalten Umgebung verstreichen, verfliegen, kann von kristalliner Starre keine Rede sein. Wenn aber der Schlund des Fisches ihn verschwinden hat lassen im Schlick des Mageninhalts, dann, allein schon ob der Dunkelheit, setzt jede Bewegung aus. Innehalten – insofern hat die Kälte, die Starre, auch etwas Aktives, Zielgerichtetes, Richtiges ganz plötzlich.

[Unvergessen ist ihm, wie die Katze ruht, erst einmal einfriert in Bewegung und auch Wollen, wenn man eine Decke über sie wirft. Nicht Panik, nicht Wärme durch Reibung und Bewegung, sondern Starre, Umkehr, Einkehr, Abwarten sind hier bei einem solchen Prachtexemplar der evolutionären Anpassungsleistungen zu beobachten und zu erlernen.]

So sind die drei Tage und drei Nächte, alle dunkel wie die Nacht wohlgemerkt, kristallin und klar und rein; nicht kontaminiert mit nutzlosem Wälzen von Gedanken oder hilflosem Antrommeln gegen die Gedärme des Fisches. Der Fisch hat ihn gerettet, nicht gefangen; er hält ihn, der Fisch ist die Decke, die über ihn geworfen wurde von wissender Hand, um ihn zur Einkehr, zur auferlegten Stille, Starre, Kälte zu lenken.

5

Fall ins Kristall. Und damit: Fall in die Zerbrechlichkeit. So weit noch gar nicht gedacht: Dass die kristalline Form zwar eine aristokratische ist, eine wahre, und reine, vielleicht die einzige auch, in der sich Schmerz ertragen lässt, eben (siehe oben) weil der Schmerz quasi als vorüber betrachtet werden kann, wenn der Zielzustand des Kristalls erst einmal erreicht ist; dass aber auch die kristalline Form die fragilste und trügerischste ist.

So standhaft, unbeeindruckt das Kristall sich den stetigen Widrigkeiten des Lebens gegenüber verhält, so angreifbar macht es sich gegen die kleinste Erschütterung, die unerwartetsten kleinen Eruptionen, die Stürze vom Tisch aus niedriger Höhe, vom Platz, wo es zu liegen kam. Das Selbst zerschießt in alle erdenklichen Richtungen, und mit ihm alle Definition von Selbst, alle Kohärenz, also Kohäsion, auch alle letzten Reste von Miteinander, von sozialem Gefüge, von Einbettung und Anbindung.

Wer das Kristall sucht, um sich vor dem Schmerz zu hüten, wählt den verlockendsten und den gefährlichsten aller denkbaren Aggregatzustände.

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