Friday, July 31, 2009

Der Müll, die Stadt und der Tod

Als ich einmal versuchte, ein Hölderlin-Gedicht zu lernen:

Die Mauern stehn sprachlos und kalt.

[Das Starrende, das Dreckige. Der Dreck, der Schmutz. So sollte man nicht schreiben, aber ich bin noch so erstaunt und bar jedes Handlungswortes, nachdem ich verstehen musste, wieviel Dreck die immer für so rein und fast unberührt gehaltene Heimat birgt. Ein paar Tage verbrachte ich in diesen klingenden schwäbischen Städten des mittleren Neckars. Doch alles geht zu Ende dort.

Die Häuser der Siedlung tragen nicht mehr den Stolz ihrer Erbauer zur Schau. Kein Aufbruch und keine überstandene Ölkrise mehr ist zu spüren, und der zweite Versuch, der Neuanstrich in Memphis-Türkis aus den 1980er Jahren, war damals schon von minderer Qualität und vollführt nun einen Totentanz mit dem Schimmel, dem über alles und immer siegenden WETTER zum letzten Mahl vorgeworfen.

Große, viel zu breite Straßen, die sich über die ehemaligen, längst gegangenen Obstwiesen gelegt haben und einmal die Verheißungen der San-Francisco-Werdung unseres Viertels andeuten sollten, dienen nur noch den knautschumzonten Kleinwagen, und einigen einsamen Radfahrerinnen, die einzuschlafen drohen, als letzte Flucht.

Halt, rufen Sie jetzt bestimmt, Sie übertreiben; doch es ist alles wahr, und wer Augen hat zu schauen, der schaue. Dieses Land ist vorbei, es ist nicht mehr, denn seine Keimzelle, die Kleinstadt funktioniert nicht mehr. Sie spielt jetzt Dorf, und hat die Errungenschaften ausgesperrt; Fußgängerzonen sind errichtet worden, und aus ihnen heraus sind Ground Zeros entstanden, die nurmehr Seelenlose freiwillig betreten können.

Die Kreisstadt spielt an anderen Orten jetzt Großstadt und stört die Ihren nicht, und vollzieht dies in atemberaubender Debilität; die billige Sportkleidung von 1998, da waren die armen Menschen etwa sechs – sie muss einhegen, was keine Seele mehr beheimatet. Alle sitzen da, auf Bänken, die auf der Gemeinderatssitzung vom 24. April 1986 mit den Stimmen der SPD– und Freie Wähler-Fraktionen erstritten wurden, und sie rauchen das Crack direkt von der Folie, und ein junger Schizophrener mit einem Strick um den Leib und dünnem Tartarenbart geißelt und fuchtelt umher und ruft etwas von „Reinigung“.

Glauben Sie mir, es geht schlimm und elend zu dort in der Provinz, aber bald, bald ist es sicher vorbei, und die großen Feldhasen werden wieder aufsitzen und in Ruhe schauen können,]

und im Winde klirren die Fahnen.


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Monday, July 20, 2009

The impenetrable beauty of Time (III)


«FIGURE 6.2. A: 3 typical types of rate-intensity functions for the auditory nerve fibers in acoustic hearing. Note the narrowest dynamic range in the saturating-type fiber and the widest dynamic range in the straight-type fiber. B: compressive input-output function of the basilar membrane (BM). C: Transformed "rate-intensity" functions in which the x-axis is the basilar membrane displacement. Note the uni-formly narrow dynamic range in all 3 nerve fibers, suggesting that the acoustically observed different types of rate-intensity functions are mainly due to cochlear compression.»


Compression is at the heart of hearing. It broadly refers to the com­pres­sion of the vast dynamic range in loudness of the sounds we are able to listen to into a much more narrow dyn­amic range of neural activity that en­codes these sounds. In geeneral, any compressive function more or less linearly trans­lates a wide range of values on any kind of input into a smaller range of these values in the output.

My percep­tion of time is just behav­ing the same: A long stretch of phys­ical time can feel very brief, when my temporal input­/­out­put function is compressive—mostly when I feel extremely good—, or it can become expansive when short stretches of phys­ical time are mapped onto a larger range of perceived time; known to most of us only as boredom. Compres­sive functions are beautiful creatures.

Dieser Beitrag ist auf Englisch, doch einiges an der Zeitmauer gibt es auch in der hervorragenden Kultur- und Verwaltungssprache Deutsch zu lesen.

Friday, July 17, 2009

Das Ende des Endes – eine optimistische Figur

—für die Freunde

Wir hatten die ganze Nacht gewacht, meine Freunde und ich, und es begab sich, dass wir im Freien zu liegen kamen. Dies war das Ende eines wunderbaren Sommers. Die Gerüche drangen wieder durch, und die knarz­enden, ächz­enden Ge­räusche eines krea­tiven, pa­arungs­willigen Singvogels freuten mich an diesem Morgen wie wenig je zuvor.

Die Erdachse war ganz leicht, aber merklich, in ihrer Bahn präzediert, wie sie es alle 26.000 Jahre tut, und der Wassermann stand mit seinen Schnapsflaschen hinter uns. Er hatte uns erlaubt—heute und all die Tage zuvor—etwas Gutes, Dauerhaftes zu schauen. Zusammen, nicht allein, tranken wir, den ganzen Sommer lang, und die Getränke, die wir erfanden, benannten wir nach unseren Idolen. Mit “Heidegger” war nicht zu Spaßen, er war unser erstes kollektives Gesellenstück, und vor lauter Geworfenheit hatte einer entschieden, dass Wodka und Korn uns nur zusammen weiterhelfen würden. Albernheiten wie “Arendt” und “Eichmann” waren nicht fern, aber unsere Augen strahlten vor Glück und Glanz, wie wir uns in Liebe zueinander stritten darüber, ob Likör oder Blutwurz die Basis dieses zu erfindenden Teufelszeugs sein sollte.

So jedenfalls verstrich dieser Sommer. Viele der Frauen unter uns trugen plötzlich Kinder in ihren Bäuchen, und wir Männer schienen endlich von Söhnen zu Vätern werden zu können ohne Angst, und wir alle waren verliebt, ineinander, so schien es; und endlich, endlich ereignete sich etwas, so schien es ebenfalls. Die Geschichte hob wieder an zu atmen, und das kleine Glück kroch aus den Fugen, und die Mauer aus Zeit, die wir gedankenlos jahrhundertelang, in stetiger Erschlaffung begriffen, errichtet hatten, wurde mürbe und brüchig, und Licht fiel herein. Wir hatten die ganze Nacht gewacht, meine Freunde und ich, und es begab sich, dass wir sehr glücklich waren.

Saturday, July 11, 2009

All things must pass

“Live forward, think backward”
—unknown, London, 2006


Heute hat es endlich mal geregnet, genieselt, als ich das Haus verließ. Ich ging noch einmal nach oben und nahm seit langem einmal wieder das Regen-Cape zur Hand.—Überhaupt ist das Wetter seit ein paar Tagen gleich wieder so frühherbstlich, das tut einerseits ohnehin meiner Seele gut, andererseits weckt es diese kleinen Flammenstöße von Trauer, wenn ich die Stadt rieche und sehe und sie mich in diesem Gewand [meinem und ihrem] so an unseren Besuch hier letzten September erinnert. Diese Aufbruchsstimmung damals, aber mit dir dabei, das war etwas Wunderbares. Es ist dieser frische, nicht mehr so heiße Spätsommer, der mich also heute Morgen zu dir führte. Das sage ich ohne Wehleid oder Anklage.—Eine Erinnerung, ein Moment, zerbrechlich; Druck hinter den Augen, ein kurzer Stich, als sei ein Amokläufer mit einem Messer vorübergegangen, und dann schaltete sich die Ampel ja auch gleich auf grün und ich überquerte die Strasse und ging weiter meines Weges.”



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Thursday, July 02, 2009

Erste Sätze (II)

“Wir saßen vor dem kleinen Café in der Stalinallee, der portugiesische Kollege und ich. Er sprach nur sehr schlechtes Englisch; im Sinne von: sehr schlechtes. Wir mochten einander, aber er hielt mich wohl für einen milde Wahnsinnigen, der bestimmt mit 19 einmal gutartig an einer Psychose vorbeigeschlittert war und dessen fast zärtlich zu nennende Obsession für dynamische Multi-Band-Kompression ihm ein Rätsel bleiben musste. Ich fand gerade dies sehr angenehm: Da er von meiner Seite ständig mit allem rechnete, war es ganz und gar obsolet geworden, in seiner Gegenwart den Künstler, den Abseitigen zu geben.”



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