San Franscisco. Man kann nicht über San Francisco schreiben, ohne über Leben auf der Strasse zu schreiben. Man kann deshalb auch nicht über San Francisco schreiben, ohne über ein in höchstem Maße idiosynkratisches, das heisst hier: meist psychotisches Geistesleben zu schreiben.
Immer, wenn ich hierher komme, alle zwei Jahre, sind die Strassen des immer fast unangenehm sauberen Financial District bevölkert, be-lebt von hochindividualisierten, ausdrucksstarken Mutationen des Grossstadtlebens; Menschen, die in anderen Welten leben, die in ihrer eigenen Welt leben. Vermutlich trifft diese Beschreibung, in dieser Allgemeinheit, auf uns alle zu. Aber die wenigsten zeigen es so ungehemmt uns anderen, zuviel Restriktion, soziale Anpassung, die das gemeinsame Leben ja auch sehr angenehm erleichtern.
Aber hier, im El Dorado der sogenannten Deinstitutionalization—wo man also schon vor zwanzig, dreissig Jahren konsequent psychiatrische stationäre Einrichtungen aufzugeben begann, zugunsten eines vielleicht liberalen, vielleicht damals fortschrittlichen, ganz sicher aber billigeren dezentralen Betreuens von psychisch Kranken, hier sammeln sich die ver-rückt-esten Exemplare aus Gottes Garten. Natürlich betreut sie niemand, sie leben einfach hier, übernachten auch tagsüber in selbstgebastelten Festungen aus Müll.
Keine Gesellschaft ist dies, in der dem Narren wie einem Heiligen gehuldigt würde; und so leben die meisten von ihnen ein Leben, das vom Stuttgarter, Berliner oder Londoner obdachlosen Trinker nicht sofort zu unterscheiden ist. Ein wenig abgeranzter aber doch die Kleidung, etwas wilder, agitierter der Blick, noch länger die Zehennägel, die aus zu Sandalen umgenutzten Turnschuhresten schauen. Man schaut sich um und weiss nicht recht, geht es ihm schlecht?, hält er mich für einen Dämon?, oder ich ihn?, wie lang lebt sie schon hier?, war er im Vietnamkrieg?, war er 20 oder 24 als man ihm einmal, vielleicht irgendwo in einem Provinzhospital im mittleren Westen die Diagnose “hebephrene Schizophrenie” mitgab?
Heute, heute jedenfalls ist diese Stadt undenkbar ohne die Heerscharen von Anders Denkenden, deren Anderssein untrennbar verbunden ist mit ihrem Anders Leben, auf den Strassen, ironischerweise genau dort, wo dieselbe Stadt sich so sinnlos, vollkommen frei von echter Bestimmung, nur noch sich selbst spielend, herausputzt und Umtriebigkeit vortäuscht. Ich gehe zurück ins Hotel, stelle die Abercrombie & Fitch Einkäufe ab, lege die neue Brille auf den Tisch, nehme das teure Macbook Pro aus dem Safe, und denke: Ein anderes Leben findet statt, jeden Tag, jede Minute.