Heute ein etwas längerer Abschnitt aus meinem eher mühsamen, vielleicht auch müßigen Versuch, endlich etwas über die Emergenz des Totalen zu destillieren. Kommentare per Email sehr erwünscht.
Teilabschnitt “Nichts zu verbergen: Das totale Dasein”
Vernetzung findet statt—das internet, das worldwide web: Diese Namen tragen in sich den Optimismus einer früheren Zeit, und doch bezeichnen sie ihren Gegenstand sehr treffend. Ein Netz webt sich, und jeder beliebige Punkt kann als Ausgangspunkt gewählt werden für die Betrachtung dieses Flechtwerks. Solch ein beliebiger Punkt kann, hilfreich für unsere Überlegungen, ein einzelner Mensch sein.
Dieser Mensch legt seine Fäden aus, er sammelt sich, was er braucht, als Ertrag seiner Flechtarbeit. Natürlich interagiert er dabei zwangsläufig mit Strukturen und anderen Individuen. Und, einige dieser Strukturen, die wirkmächtigsten Webmeister sozusagen, betreiben den Datenverkehr als Geschäft: Sie bieten Waren feil, welche teilweise noch sehr altmodisch per Post verschickt werden müssen, oder transferieren gegen elektronische Zahlungshandlungen Datenpakete, die der Kunde (unser einzelner Mensch) wünscht, Musikstücke, Filme, oder—noch etwas abstrakter—spezifisch für ihn erbrachte Dienstleistungen, wie z.B. Anfertigungen von Steuererklärungen oder Intelligenztests (um im Sinne einer Zuspitzung die sensitivsten Beispiele zu wählen).
Bei diesen Kommunkationsakten entstehen natürlich Spuren; Webfäden, Zeugnisse werden abgelegt, die Bewegung in diesem second life [1] ist stets (allumfassend, also geltend für alle Navigierungen zu allen Zeiten) detektier–, aufzeichen– und zuortbar.
De facto, und es langweilt fast etwas, dies hier zum Zwecke der Vollständigkeit wiederholen zu müssen, ist jede Bewegung unseres Individuums durch Dritte einsehbar, nachvollziehbar, ganz besonders einfach aber natürlich, wenn große Teile dieser Bewegungen via Knotenpunkte eines umfassenden Dienstleisters stattfinden (derzeit heißen die Protagonisten Google, Amazon, Myspace, Facebook—wie ist dies, jetzt, in unserer Zukunft und Ihrer Gegenwart, wenn Sie dies lesen?). Graduierungen des hierfür nötigen Aufwands bestehen natürlich, sind aber im Rahmen unserer (nur geringfügigen) gedankenexperimentellen Zuspitzung hier völlig irrelevant.
Es wäre hochgradig albern, das Sammeln dieser durchaus persönlichen Daten, dieser Spuren und Abbilder unserer Vorlieben und Eigenheiten, dem einzelnen Unternehmen oder der Muttergesellschaft übel nehmen zu wollen. Ein Unternehmen (man beachte auch hier bereits das immanent kopflose, und insofern emergente, Wollen einer Unternehmensstruktur) kann nichts anderes wünschen, als seinen heutigen und künftig zu erwartenden Gewinn zu mehren. Dies war schon immer so, und wird und soll immer so sein. Ein mögliches Problem hierbei mit direkter Relevanz für das Entstehen des (siehe Teilüberschrift) totalen Daseins ergibt sich aus der schieren Möglichkeit zur Erfassung der Daten des Einzelnen, die im Rahmen der unternehmerischen Logik natürlich unbedingt auch ausgeschöpft werden muss. Gleichzeitig haftet den Versuchen (national-)staatlicher Regulierung etwas Hilfloses bis Absurdes an im Angesichte der inhärenten Internationalität globaler (und ganz besonders Internetbasierter) Unternehmensstrukturen.
Meine Daten werden also erfasst, nicht weil es verfügt worden sei, sondern weil es möglich ist. Ich selbst wirke daran mit, es ist impliziter oder expliziter Gegenstand des Vertrages, der mit jedem Datenverkehr zustande kommt. Nichts ist umsonst, und die Währung in der ich bezahle, ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als mein selbst mit seinen Facetten, Vorlieben, Eigenschaften, vorgetäuschten wie echten wie, ganz postmodern, echt vorgetäuschten [2].
[1] Dieser Begriff (second life) wird hier natürlich mit Absicht gewählt, um den bemitleidenswert lächerlichen und überflüssigen Anbieter der eponymen virtuellen Spielwelt, Linden Labs Inc., als solchen zu kennzeichnen. Das wirklich zweite Leben findet längst statt, auch ohne schlechte Animationen, virtuelles Geld und virtuellen Sex.
[2] Der am ehesten noch anarchisch zu nennende Murdoch-Spielplatz myspace.com hält hier mit den dort vertretenden zahlreichen toten Philosophen, Heidegger, Nietzsche, Spengler, Baudrillard und aufgelösten Bands (noch) eine Sonderstellung inne und eine besondere Einladung zum postmodernen Spiel mit den Identitäten aufrecht. So schreibt eine myspace-Identität, die den Namen und das Bild des deutschen Journalisten Ingo Niermann trägt, mit gebleckten Zähnen in der Kommentarleiste der myspace-Präsenz eines anderen deutschen Schriftstellers, an die Adresse eines verwunderten anderen Besuchers (der sich fragte, wie dieser Schriftsteller doch hier das [impliziert: banale, unwürdige] Spiel der Sozialen Online-Netzwerke mitspielen könne): “Alexander—woher wissen Sie denn überhaupt, dass das hier Christian Kracht auf Myspace ist, der ‘Leute added’?”