Um zu verstehen, wie Raum und Zeit verwoben sind, muss man nicht die effektheischenden Bücher des Stephen Hawking lesen. Man muss auch nicht Weblogs ins Leben rufen, die diffus nach Zeit benannt sind, auch und gerade wenn Zeit als Phänomen alles andere als den Mittelpunkt des eigenen Denkens darstellt (dafür ist es zu ausuferend auch, und zu sehr mit dem schalen Geruch des Wissenschaftlichen behaftet).
Nein, um Raum und Zeit und ihre Verwobenheit zu erfahren reicht es, an einer der zahlreichen sogenannten Anschlussstellen in das mächtige Rhizom, das die deutsche Autobahn darstellt [1], einzubiegen.
Bringt man dazu noch das leicht übernächtigte Gehirn mit, das es braucht, um im schlichten Autofahren gleich wieder den Raum, die Zeit und Gott am Werke zu sehen,
und ist das Innere dieser Raum-Zeit-Kapsel auch noch erfüllt mit der beruhigenden Stimme eines Dichters, der in einem längst verhallten Moment in einem Tonstudio in ein (den Bass seiner Stimme hyperreal mumifizierendes) Neumann-Mikrophon seine Erzählung von einer so sicher nie stattgefundenen Revolution ( i.e., Um-Kehr) gesprochen hat
—dann kann es einem klar vor das innere Auge treten:
Ich fahre in die Zukunft, die die Vergangenheit des Autos auf der Gegenfahrbahn ist. Besser, auch wenn es das gleiche meint, aber es klingt dramatischer: Ich komme aus der Zukunft der Gegenfahrbahn. Das ist herrlich, fast könnte das Gehirn sich in einem Schauer oder wenigstens einem Hauch von Macht und Überlegenheit ergehen:
Ich weiss, dass Du in wenigen Momenten, in Sekunden oder in Metern zu messen, hinter einer undurchdringlichen Wand aus Blech Dich wirst anstellen müssen. Ich weiss sogar, und Du wirst froh sein, es nicht zu wissen, wie unfassbar lange dieser Metallverschluss sich hinzieht, wie undurchdringlich Dein Anstehen dort hinten also sein wird. So schmerzhaft genau und detailreich und unabwendbar kenne ich Deine Zukunft, dass ich Dich um den Verstand bringen würde, teilte ich Dir mit, dass—hast Du doch einmal diese Obstipation aus stehendem, nutzlos gewordenen Gefährt, schreiendem Kind, abgestandenden Schweigen zwischen den Paaren durchstanden, heute Nacht gegen 22 Uhr vielleicht—Du wirst abfahren müssen, hinausgebeten werden wirst aus unserer schönen Raummaschine, hinab ins irdische Treiben auf den Landstraßen.
Denn dort, wo ich herkomme, auf meinem Ritt auf dem Kondensstreifen des Zeitstrahls, dort habe ich die Zeitlöcher gesehen, diese wunderschönen endlos scheinenden Kilometer ungenutzter Autobahn. Dort vorn (dort hinten?) in Deiner vollgesperrten Zukunft wiederum, in dem, was Dein blinder Fleck werden wird, war es mir vergönnt, meine eigene verpasste Vergangenheit, sozusagen den blinden Fleck vor meiner Geburt, ja genau: jene sagenumwobenenden autofreien Sonntage im 1973er Jahr, doch noch zu erfahren. Welch ein Erlebnis.
Du hingegen wirst leider die anmutige Sanftheit dieser der Landschaft einbeschriebenen, unbenutzten Betonbahn nicht erleben; sie zeigt sich erst, wenn man all die ignoranten Fahrzeugführer mit ihrem Gummi und ihrem Rausch, auch Dich, einmal verbannt, wie es die weisen Ästheten der Autobahnpolizei soeben tun.
Während ich all dies herbeihalluziniere, schleicht sich aus einem stärker der Ratio verhafteten Teil meines Gehirns der—bescheidenere—Gedanke an, dass all dieses prophetisch-machtberauschte Künden von Deiner Zukunft, die ich erlebt habe und von der Du nichts ahnst, genau so gnadenlos gilt für mich und Deine Vergangenheit, die meine Zukunft sein wird.
Ich sollte also nicht so dick auftragen, denke ich, lausche weiter dem namenlosen Held auf seinem Weg zur Verflüchtigung im Autoradio und schiesse mit 150 Kilometern/Stunde in meine ungewisse und mir auf einmal fast gefährlich erscheinende Zukunft.
[1] Zum Thema der Autobahn als (Klang–)Geflecht empfehle ich ausdrücklich das Schaffen von OLAF SCHÄFER, bald nachzulesen im vorzüglichen Interview hier an der WALL OF TIME, sowie kommenden Donnerstag in Berlin seinen Vortrag mit dem Titel “Metrophonie No. 1” im Rahmen der UDK Sound Studies Abschlusspräsentationen.