Saturday, April 05, 2008

Abtasttheorem

Ich bin mir jetzt endlich sicher: die sich zusammenziehende Zeit ist mir die liebste. Ich meine damit, der sich ausdehnende Moment ist mir der liebste. Bevor ich das erkläre, muss klar sein, dass ich nicht dieses halbherzige sich-in-die-Länge-Ziehen an Bushaltestellen, an Fahrkartenautomaten meine.

Vielmehr habe ich erkannt, wie weit das Herz wird, wenn die Abtastrate sich asymptotisch dem Unendlichen annähern kann, die äusserlich verstreichende Zeit damit ebenso asymptotisch dem Gefrierpunkt entgegenstrebt.

Man muss vermutlich die Besessenheit des Autors mit Problemen der digitalen Signalverarbeitung teilen, um diesen kruden Vergleich zu schätzen: Stellen Sie sich einfach vor, Ihr internes Zeit-Abspielgerät, einem iPod nicht unähnlich, spielt die Momente des flüchtigen Jetzt stets mit einer festgelegten sog. Abtastrate ab. Nun mag Ihr normales Zeitempfinden, einer typischen Audio-Datei hier sehr ähnlich, so um die 44100 Sinneseindrücke, Gedanken, Informationspäckchen pro Sekunde zurechthäufen, und Ihr 1.2 kg schwerer mitgelieferter iPod im Kopf mag so etwas üblicherweise auch mit 44100 Einheiten pro Sekunde Ihnen wieder zu Bewusstsein spülen. So weit unsere kleine Abtasttheorem-Analogie hier.

Was aber, wenn die festverdrahtete, festgelegte Abtastrate des Bewusstseins (hier einmal als Ausspielrate bezeichnet) sich einer im Gegenzug dramatisch gesteigerten Abtastrate der Eindrücke und Gedanken, hier einmal als Einleserate bezeichnet, gegenübersieht? Wenn zum Beispiel während des Falls von einem Hochhaus, und wir haben da dank eines heroischen, bungeespringenden Kollegen aus den USA entsprechende Hinweise, Ihre Kapazität, Eindrücke zu erfassen und anzuhäufen, sich ins Unermessliche steigert? Wenn ich mit 80000 Sensationen meinen Bewusstseins-iPod, mit seinen sturen 44100 Datenpunkten pro Sekunde Ausspielrate, befeuere, wird diese eine Sekunde eben tatsächlich, also für mich eben fast zwei Sekunden dauern.

Ich entschuldige mich für den Tech-Sprech, doch all das schoss mir mit 300 000 Eindrücken/pro Sekunde durch den Kopf, als ich in einem Buchladen stand und eine Ulysses-Ausgabe aufschlug. Läse man dieses Buch (tatsächlich) so würde die Erlebenszeit (in diesem Falle auch: die Zeit zum Ein-Lesen des Buches) sicher sehr lange dauern—es ist ja auch sehr kompliziert, höre ich—doch die Handlung des Buchs würde am Ende doch nur einen Tag gedauert haben.

So trickst man mit der Zeit herum, und so verdichtet sich ein Moment so lange, man stopft ihn voll mit Eindrücken, man saugt alles auf, man lässt alles herein—und das meinte ich, wenn ich oben schrieb, wie ich so gerne die Abtastrate (Einleserate) gegen Unendlich streben lassen würde, um bei gleichbleibender Abtastrate (Abspielrate) die objektiv verstreichende Zeit gegen null zu drängen.

Das wird es auch gewesen sein, was ich an Nicholson Bakers Buch Die Fermate so gemocht haben könnte: Das Anhalten der Zeit, aber nicht als romantischen, reaktionären Streich, sondern als ein Ausdehnen ins theoretisch Unendliche der Eindrücke und ein Einschliessen von Allem im Jetzt. Ein Dichter saß einmal an einem längst nicht mehr mir gehörenden Esstisch, und gab zu Bedenken, dass es bei Baker doch nur um Sex gehe, und er hatte bestimmt recht, und das ist auch eine sehr andere Geschichte, aber auch sie gehört hierher; und Sie sehen, wie mühsam es ist, die Eindrücke in für Aussenstehende noch tragbarer Zeit wieder auszuspielen, einzutippen.

So bleibt der Traum des Moments, den Baker vielleicht auch beschreibt, und ein Traum, das Jetzt nicht einzufrieren, sondern es auszudehnen, aufzukochen fast, bis es verdampft, und all die einströmenden Informationen, Gerüche, Worte, Gedanken sich verflüchtigen in das All eines immerwährenden Moments —



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