Genau jetzt: Es scheint, als bräuchte ich meine tägliche Dosis Baudrillard. Er ist ja als Philosoph missverstanden worden, also: als Philosoph verstanden worden. Dabei ist er doch ein Poet gewesen.
Da schlage ich ein wunderschönes kleines, kleinstmögliches Büchlein auf, mit dem ja bereits sagenhaften Titel “Warum ist nicht alles schon verschwunden?”, en passant eigentlich eine gelungene Demonstration, dass Selbst-Ironie doch noch möglich ist,
und dann steht da auf der ersten Seite—die wie das ganze Buch in einem ganz engen Satzspiegel daherkommt, muss es ja, es ist so klein, gewinnt aber dadurch diese gedichthafte Zeilenlänge von höchstens 45 Zeichen—da steht also:
WENN ich von der Zeit spreche, dann deshalb,
weil sie noch nicht istWenn ich von einem Ort spreche, dann
deshalb, weil er verschwunden istWenn ich von einem Menschen spreche,
dann deshalb, weil er schon tot istWenn ich von der Zeit spreche, dann des-
halb, weil sie schon nicht mehr ist
— Kann man Zeit treffender um-schreiben? Sie zu be-schreiben scheitert, das sehen wir hier an der Zeitmauer ja täglich.
Aber dann dichtet da ein alter Franzose, unser Freund Markus Sedlaczek übersetzt es für uns in wohlgeformtes Deutsch, der alte Mann mäandert durch die Worte, pflügt mit seinem Tempus-Traktor durch die Logik; aller Baudrillard scheint auch in diesen (posthum erschienenen) vier Zeilen enthalten, alles was sie an ihm hassen, und alles (dasselbe) was man an ihm lieben muss.
Und er hat plötzlich in den vier Zeilen, die seinen letzten Text einleiten, das Paradoxon der Zeit oder unserer Erlebens von ihr, das Flüchtige, das für die Melancholischeren unter uns immer auch vom Verschwinden und vom Sterben handelt, eingefangen, eingerahmt. Die Zeit, die noch nicht ist, und jene, die schon vorbei ist, halten und stützen hier die verschwundenen Orte und die toten Menschen.
Wer so zu schreiben weiss, hat die Zeit und den Raum und den Tod überlistet.