Momentaufnahme: Eine Frau in ihren späten 60er Jahren geht durch eine schwäbische Kleinstadt. Genauer geht sie die wenigen Meter von ihrer ehemaligen Arbeitstätte, einer beschaulichen Schule in einem stattlichen Schulhaus, an die sie gerne und oft zurückkehrt zur Aushilfsstunden, zu ihrem Wohnhaus, in dem sie so lange lebt, wie sie in dieser Schule arbeitet, seit fast 40 Jahren. Wie die Frau so entlanggeht, den Blick auf den Asphalt gerichtet, da schaut sie auf einmal ein Gesicht an, verschwommen, und vielleicht ist es ihr, als sei sie das selbst, damals, in den späten 1960er Jahren.
Ein modischer Kurzhaarschnitt, und etwas zugleich Neugieriges, Wachsames und Schüchternes spricht aus dieser—halt, eine Photographie ist es nicht, es ist gemalt, es ist, ja, die Frau bückt sich und hebt das Stück Karton auf, zertrampelt und gekörnt wie es ist vom rauhen schwäbischen Kleinstadtasphalt, von nichtsahnenden Kinderturnschuhen, aus den Disountmärkten oben an der Ausfallstrasse, ja, es ist die Reproduktion eines Gemäldes. Von Gerhard Richter, geboren 1932. “Momentaufnahmen”, steht in Futura oben links, und unten rechts, “Gerhard Richter”, für die Schulkinder.
Wie die Lehrerin schnell bemerkt, entstammt dieser Findling einer Art Kunst-Lehr– und Materialiensammlung für Schulen. Er zeigt passenderweise ein Exemplar der “Acht Lernschwestern” aus dem Jahre: 1971. Fast, also. 1971, war die damals noch junge Lehrerin und Mutter vielleicht gerade zurück im Schuldienst? Wie mag der Weg, auf dem nun diese Karte zu liegen kam, damals ausgesehen haben? Das Haus der jungen Lehrerin stand erst ein Jahr, als eines der ersten der Siedlung, viele der heute hier stehenden waren noch nicht einmal gezeichnet, von jungen aufstrebenden Ingenieuren und Statikern. Doch heute erinnern uns die Häuser selbst allesamt an staubige, gefühlstote Sommer mit wenig klingenden Kalenderdaten wie 1979, 1984, 1987 und sind die Statiker längst tot, auch wenn sie wenigstens der Nachbarschaft die schöneren, eigenen Häuser hinterlassen haben, die über sich selbst hinausweisenden, die wenigstens entfernt von einer Welt ausserhalb der Kleinstadt künden.
So ändert sich alles, dreht sich, revoltiert, während eine gemalte Photographie einer Lernschwester des teuersten unserer lebenden Maler in einem Materialienschuber in einer Dorfschule sich ausruht für die rauen Tage auf dem nassen Asphalt im Jahre 2008, und während all dieser Jahre die Lehrerin ihr langjähriges, geglücktes Werk mit den Lernenden vollbringt, die in der Kleinstadt bleiben oder gehen, Gerhard Richter kennen– und liebenlernen oder: eben nicht.
Momentaufnahmen.