Wednesday, October 29, 2008

Strahlt ein toter Wind noch? Jünger, abgetippt.

—“So schreibe ich jeden Tag, auch wenn ich selbst nichts schreiben mag.”

Man kann sich den Schriften eines Vielschreibers, eines täglich Schreibenden, auf unterschiedliche Arten nähern. Lesen ist meist ein Teil davon, seltener das Abschreiben. Ein Mensch mit dem hervorragend geeigneten Pseudonym Mistral («The Mistral in France is a fresh or cold, often violent, and usually dry wind, blowing throughout the year but is most frequent in winter and spring») hat nun beschlossen, sich dem sperrigen Vielschreiber Ernst Jünger und dessen (von vielen als Hauptwerk verstandenen) “Strahlungen”, den Tagebüchern von 1939 bis 1948, zu nähern.

Was tut Mistral? In einem anderen Tagebuch, nicht jenem Jüngers, sondern jenem des Schriftstellers Pippin Wigglesworth-Weider, lese ich:

“Dann tippe ich sie ab. Zwei bis drei Einträge pro Tag. Es ist Tipp- und Schauarbeit. Hin und zurück mit den Augen, weil die Hände noch nicht ganz selbständig auf die Tasten wirken. Das Ziel der Übung, der genaue Blick auf die Worte und das Gehör für ihr Gewicht im Satz, bewusst und unbewusst das Gute zu verinnerlichen. Zu jedem abgetippten Eintrag füge ich ein Bild hinzu, die Auswahl des passenden Motivs ist der Zucker für den Esel. Dann lade ich die Arbeit auf den Weblog: Strahlungen 2010.”

Mistral oder Pippin oder eine Figur, die sie beide bilden, irgendwo zwischen ihren eigenen Vorlieben, Text­begegnungen mit Jünger und einer berührenden Formstrenge, tippen für uns (vielleicht bis 2010, was ich nicht recht glaube, und was auch egal ist) also die “Strahl­ungen” ab, und verleihen Einträgen wie vom 18. April 1939, in Kirchhorst, neues Leben. Man hätte einscannen, horten, selektieren, kopieren, einfügen, apfel v, können. Und vielleicht macht es ein schlauer Mistral auch genau so, und spielt mit uns—dahingestellt.

Was uns geschenkt wird, ist ein web-basiertes Tagebuch, das nichts anderes will, als die fast 70 Jahre alten Gedanken und Sprachspiele eines anderen wieder zum Atmen zu bringen. Keine albernen Youtube-Links, aber auch kein Party-Nacherzählen, oder prätentiöse Befindlichkeit, wie hier manchesmal. Nur die Strahlungen.


Apologies to our readers who prefer our English posts.

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