Tuesday, May 05, 2009

Es ist ein kurzer Weg in langer Zeit

Einsamer nie als im August: — Das ist ja von Gottfried Benn, dem Zauderer. Ich sollte mich hüten, ihn gleich auch noch zum einsamen Zauderer zu machen; er kann sich nicht wehren und ist ja schon sehr lange tot. Auch hätte er das Sich Wehren gänzlich abgelehnt möglicherweise, wie viele große Künstler, die genau wissen, dass das eitle Stellungbeziehen, und sei es dagegen, die wertvolle und in ihrem Wortsinne so wahre Indifferenz verrät. Benn jedenfalls schrieb dieses Gedicht im August 1940. So sind es die Worte selbst und der Zeit-Punkt ihres Entstehens, die in mir nachhallen.

Sommer 1940; wie der Text nahelegt, gar der August desselben. Da bangte meine Großmutter hoch– und höchstschwanger, die Nieder­kunft erwartend, dem entgegen, was da kommen möge. Mein Großvater stand sicher schon im Feld, auch wenn mir erste Bilder von einem Studienrat vor dem Ortsschild Belgrads erst aus dem Jahre 1941 vorliegen. Neunzehnhundertvierzig, der Sommer; da waren doch die Franzosen ein für allemal geschlagen, da war man sich mit Stalin doch einig. Nur die Bomber kamen weiterhin, trotzdem und immer heftiger. Und immer weniger waren die Menschen, und ganz sicher unter ihnen meine Großmutter, 23 Jahre jung, in der Lage, das Sportliche in den Angriffen zu sehen.

Meine Großmutter war ein ängstlicher Mensch. Angst ist ein Motor, ein einsamer noch dazu. Die Menschen dringen nicht mehr durch zu mir, wenn ich ängstlich bin. Der Bomber aber drang durch, damals längst noch nicht in den Südwesten, aber die Gerüchte und Geschichten eilten ihm voraus und ebneten ihm den Weg. Sicher auch den Weg an den Neckar, und in die Ohren meiner Großmutter, und von dort in ihr Gehirn, das damals noch tadellos und blitzgescheit funktionierte, 59 lange Jahre bevor ein sich langsam, aber todsicher verschliessendes Stück Blutleitung dies ändern, ihr erst die Worte, dann die Angst, dann die Einsamkeit, und zu guter letzt das Leben nehmen sollte.

Was passiert, wenn eine vielleicht einsame, sicher aber besorgte junge Schwangere in den Zirkus der Angst gerät? Wenn das Cortisol sich ausschüttet über ihr eigenes, und vor allem über das kleine in ihrem Bauch gedeihende Gehirn? Zu leicht vergesse ich, dass ein Gehirn stets in einem Bauch reift, ein schönes und wahres Bild. — Plötzlich also schreibe ich, von Benn kommend, dem Schöpfer des zaudernden Hirnvermessers Rönne, über die (sehr wörtlich zu nehmenden Hormon– und Botenstoff-)Schauer der Angst, wo ich doch nur an den August 1940 denken wollte und die nahenden Flugzeuge am Himmel.

“Früher habe ich gerne WALL OF TIME gelesen, bevor ein Wahnsinniger denen diese Luftkriegsliteratur zugeschippt hat”, mögen Sie jetzt entgegen. Ich verdenke es Ihnen keineswegs und stehe ebenso ratlos wie Sie vor der obsessiven Kraft des Tods von oben, vor meiner steten Rückkehr zu längst vergangenen Verbrechen, Schrecken, Absurditäten und Unerklärlichkeiten.

Jedoch, sie hallen nach, und vom Cortisol-Level einer jungen Frau bei Heilbronn an einem Abend im August 1940, während Benn auf der Terrasse der Stadthalle Hannover sich immer tiefer in sich selbst verkriecht und während Benjamin, immer weniger der Verzweiflung entgegensetzend, an den spanischen Grenze seine letzten Tage zählt, ist es ein unfasslich kurzer Weg zu mir, dem Sohn der Tochter. Es ist ein kurzer Weg in langer Zeit, und weil wir so langsam, wie diese Fortschritte sich vollziehen, gar nicht schauen können, verstehen wir nicht, wie alles zusammenhängt.

Es bleibt mir nur, auszuloten wie ein armseliger Hirnforscher mit seiner trüben reduktionistischen Grubenlampe, wie die verschütt liegenden Erze eines total umgekrempelten, pervertierten Daseins, vor fast zwei Generationen einmal, bis heute in mich hineinwirken, in meine kleinen Sorgen, meine Einsamkeit, und meine Sommer.


Apologies to our readers who prefer our English posts.

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