Friday, October 23, 2009

Das System braucht uns nicht.

Heute ein leider für solche Notizbücher etwas zu langer Text. Sie können Ihn gerne auch hier etwas schöner sich öffnen und ausdrucken.
Ein Hinweis noch in eigener Sache:
WALL OF TIME, welche zur Zeit eher seltener denn häufiger erscheint, wird in Zukunft eher häufiger denn seltener seine noch so ephemeren Artikel in leserlicher und bibliophiler Form als portable document format darbieten—wenn schon große deutsche Tageszeitungen keine Zeit oder Lust mehr für simpelste typographische Details wie Ligaturen haben. Jetzt aber:
—J.O.


Flughafen Chicago. Eine wiederkehrende Figur, ein Thema: Das Verschwinden der Menschen. Verschwinden, das klingt nach Theater fast, nach kontrolliertem, organisiertem Abgang, als Ausdruck eines Gestaltungs– oder Schöpferwillens. Aber es ist ja ganz anders, komplizierter. Die Figur, die mich eigentlich bewegt und wiederkehrend heimsucht, ist jene vom obsolet werdenden Menschen.

Der obsolete Mensch. Das knüpft sehr schnell an verschiedene, unterschiedlich unangenehme Motive an. Das fern liegende, an das ich hier nicht erinnern will, wäre jenes vom unnützen Menschen und vom unnützen Leben; ein ekelhaftes Nazi-Thema. Woran ich viel eher denke—hier, am Flughafen, in den USA, genauso wie sehr oft zuhause—, ist das Motiv der 1970er Jahre, der zu Ende gehenden Industriegesellschaft: Jener stets leicht irrationale Refrain vom Roboter, der den Menschen ersetzt. Von Papi, der keine Arbeit mehr hat, denn die macht jetzt ein Automat. Nun, der Punkt ist ja: Genauso ist es.

Ich muss ausholen. Zahlreiche USA-Reisen haben mir klargemacht, wie anders, und zwar ambivalent anders, das Verhältnis der US-amerikanischen Gesellschaft zur Arbeit ist. Es scheint hier für viel mehr Menschen Arbeit zu geben als zuhause im Europa der 1990er und 2000er Jahre. Die Menschen, oft gar nicht legal im Land, also eigentlich gar nicht da, sie arbeiten überall, sie leisten Dienst. Dienstleistung, das war doch das nächste große Ding, die Dienstleistungsgesellschaft, die haben wir im Gesell­schafts­kunde­leist­ungs­kurs besungen, sie stand vor der Tür. Es war also ja gar nicht schlimm, dass Papis Arbeit ein Automat machte, denn Papa könnte ja stattdessen Dienst leisten. Und hier, in den USA, hier schien es genauso zu sein. Zahllose Menschen aus Puerto Rico, Haiti, den Philippinen wuseln stets umher. Sie machen Dinge, die man in Europa immer ohne nachzudenken entweder selbst oder gar nicht tut: Einkaufende begrüßen, Einkaufstüten füllen; Gläser abräumen oder fast unbemerkt zwischen den echten, aufgestiegenen Kellnern Wassergläser auffüllen, den Krug dabei stets seltsam gedreht in der einen Hand haltend; in Wartehäuschen sitzen, aufpassen, und vor allem warten. Oder—neuer und ewiger Spitzenreiter der völlig sinnlosen, aber von Menschen eingenommen Jobs—mit einem auf einen Besenstiel aufgespießten Tennisball zwischen den Konferenzbesuchern umher-(gibt es dafür denn gar kein deutsches Verbum:)ushern und die schwarzen Schlieren der Schuhe vom Boden rubbeln.

Diese Menschen haben natürlich (beginne ich bereits wie August Bebel zu klingen? Die Sozialdemokratie ist ja tot, dann macht das vielleicht nichts.) überhaupt keine Krankenversicherung oder ähnliches; einmal schlecht Gläser geschenkt und den Job macht ab morgen der Vetter, und sie verdienen, wie alle im Dienstleistungssektor, viel weniger als man sich vielleicht denken würde; und so sind die vielen ausgeteilten Handgelder, die einzelnen Dollarnoten für die Gepäckjungen, alle in ihren späten Dreißigerjahren, ein fest einkalkulierter und vermutlich sehr nötiger Teil des Haushalts.

Aber sie haben Arbeit, sie werden gebraucht, sie nehmen Teil. Dieses “Aber” ist die Ambivalenz. Es geht im Kern, Sie ahnen es seit dem Beginn meiner Suada, natürlich darum, für wen wir eigentlich Arbeit haben, und wen wir brauchen, und für was. So richtig klar wird einem dieses Problem aber nicht zuhause, wo man die etwa vier Millionen Erwerbslosen mal munter binnen ein paar Jahren wegschrödern will, ein andermal einfach totschweigt oder in Hartz gießt. Klirrend klar, als ein emotionales Problem sich darstellend, und zwar als ein Zittern oder Zucken und Fragen im empfindenden Wesen, was das denn eigentlich alles bedeuteten wird: Klar wird einem das hier in den USA, wenn hier auf einmal die Arbeit ausgeht. Hier, wo man—weiland man komplexere, dadurch entstehende Probleme ignoriert—zumindest die Simulation von Arbeit (und die Simulation würdiger Einkommen) am längsten aufrechterhalten hat (siehe dazu auch meine poetische Figur zum Begriff des “Automatic Teller”); hier, das heisst: auch hier!, halten nun die Automaten Einzug.

Am Flughafen checkt man selbst ein. Die Rechnung ist ja einfach und tausendfach gemacht worden: Maschinen sind billiger, es reicht völlig, wenn auf einer Seite des Tresens ein Mensch (der Kunde) steht. Im Supermarkt checkt man selbst aus. Der eine, der da mal etwas betrügt, fällt nicht weiter ins Gewicht. Die meisten sind ehrlich und lassen sich wie die Kühe, die schon lange selbst zum Melken anstehen, die Beträge abbuchen. Die Eleganz solcher Modelle besticht mich, Betriebswirtschaft mit ihrem „Think Big“, dem Zulassen kleiner Unschärfen und ihrem Blick auf die großen Summen und langfristigen Gewinne rührt mich ästhetisch an. Doch, der einzige Grund, wieso ich dies alles aufschreibe, lautet: Wieso tun alle so, als würden wir gebraucht? Wozu wird der Mensch noch gebraucht?

Sie hören recht, ich sage nicht: Wozu wird Pablo, der illegale Anstreicher noch gebraucht, sondern wozu der Mensch?

Schnitt: Ein verschwitzter Rainer Werner Fassbinder gibt etwa 1972, pre-Ölkrise, pre-(gefühlt)-everything, ein Interview anlässlich der Ausstrahlung seiner Fernsehserie „Acht Stunden sind kein Tag“. Ich weiß alles gar nicht mehr genau und habe das alles ja nur einmal in jenen Leistungskurszeiten in den 1990er Jahren auf Video gesehen, aber er sagt: “Wie müssen einmal darüber nachdenken, was es bedeutet, wenn nicht mehr alle gebraucht werden, um den Wohlstand zu erwirtschaften. Wie könnte ein erfülltes Leben ohne Arbeit überhaupt aussehen?” Das sagt er alles wirklich, und ich denke, damals wie heute: wir denken ja alle gar nicht darüber nach. Wir werkeln alle, wirtschaften, mal ohne Ertrag, mal wie oft nur mit simulierten Erträgen, aber wir wollen alle arbeiten, denn nur so, so lehrt man uns, bekommen wir Geld und nur so vollzieht sich die Wandlung, die uns selbst zu etwas von Wert werden lässt.

Das Buch kann doch bald selbst ent­scheiden, dass es in meinem Buch­regal unge­lesen stehen will, und dann kann es der Kredit­karte Bescheid sagen und die mensch­lich­en Finger­tapser im System werden weniger.

Das System braucht uns nicht mehr lange, das wird mir klar, wie ich am Flughafen Chicago die Maschinen sehe, an denen reichlich hilflose, eigentlich schon: überflüssige Passagiere ihren Check-In-Versuchen nachgehen. Denn, um auf das obige Bild zurückzukommen, wieso überhaupt noch Menschen auf auch nur einer Seite des Tresens, den das System darstellt? Wieso gaukelt uns die Airline einen persönlichen Gewinn vor, wenn wir nur etwas im Grunde sinnlos Gewordenes auch noch selbst tun?

Wenn der Kühlschrank bald schon selbst nachschaut, was noch vorhanden ist und was gebraucht wird, um es dann bei einer anderen Maschine zu bestellen, dann—ich bitte Sie aufrichtig: Verzeihen Sie mir die 1970er-SPD-Haftigkeit meiner Worte; ich erschrecke selbst, dass alles so wahr ist!—dann jedenfalls kann er doch auch selbst wegwerfen, was verdorben ist, und überhaupt können das doch auch die Maschinen untereinander ausmachen. Das Buch kann doch bald selbst entscheiden, dass es in meinem Buchregal ungelesen stehen will, und nicht in Ihrem, und dann kann es der Kreditkarte mit dem simulierten Kreditrahmen Bescheid sagen, dass sie es bitte bestellen soll, und dann schickt es der Paketautomat auf den Weg, und die menschlichen Schlieren und Fingertapser im System werden weniger, von den Lohnnebenkosten ganz abgesehen; und Maschinen machen auch weniger nur von Menschenhand zu entfernende Schmutzspuren auf den Fussboden.

Das alles muss gar nicht schlimm sein. Keine Dystopie, die ich hier aufzeigen will, kein Warnen, kein rhetorisches Umsteuern. Nein, gar nicht, wohin auch. Nur: Sehen will ich es, und vielleicht sehen Sie es auch, und lassen den kleinen Schmerz oder, adäquater, die Irritation und den Schrecken zu, dass es so ist.

Re-enter the Matrix: Dies alles kann sich entspinnen, und bleibt zurück wie ein böser Traum, während der Kollege schnell und zugegebenermaßen völlig problemlos an dieser Maschine dort eincheckt. Das eigentliche Erschreckende ist, dass ich selbst nicht weiss, wozu ich hier bin.



Apologies to our readers who prefer our English posts.

Thursday, October 22, 2009

Wo die wilden Kerle wohnen

Ich suche noch jenen weisen Mann, jene weise Frau, die mir in Worten verständlich machen können, was dort oben passiert, was überall—wo ist oben?—passiert, wenn wir in großen, riesenhaften Gefährten durch den Atlantikhimmel reisen.

Wo war ich heute nacht, war es denn eine Nacht, war es ein Traum oder Rausch? Auf welches rätselhafte Konto habe ich soeben sieben Stunden eingezahlt? Ich verstehe es alles nicht. Ich ahne die Dämonen um uns nur, die das Blech schütteln, es anstupsen mit dem Zeh. Aber man sieht sie nicht. Welches Wegepfand fordern sie pro passierendem Fluggerät? Der Pilot mag es wissen, wie er alles durchwacht und durchlebt: Als wäre es hilfreich, ein Fenster, viele Maßzahlen und Geräte zur Verfügung zu haben. Oder die Damen, eher Matronen, alle 2 Meter 35 groß, Kleidergröße 56, in nachtblauen Uniformen, blond, hanseatisch, streng, die nach allem schauen. Arbeitend, alltäglich lässt sich das Rätsel Transatlantikflug vielleicht erschließen; vielleicht. Eher aber auch: nicht. Sie hören vermutlich nur auf, darüber nachzusinnieren.

Als wir die Wolken über München von oben her durchbrechen und als schließlich das zeit– und geschwindigkeitslose Taumeln in fühlbaren Speed auf der Landebahn sich verwandelt, da schaut mich der alte amerikanische Grieche Sam neben mir an, er strahlt fast, und ich sehe in seinen Augen irgendeine unaussprechbare Übereinkunft, dass wir gerade wieder einmal das Rätsel durchquert haben.

Vielleicht ist er jener, den ich meine? Er gibt es nicht zu, doch wie um mir eine Freude zu machen, und in Ermangelung von besseren Worten, formt er seine beiden Hände im Schoß zu Schaufeln, und spricht zu mir nur dieses eine Wort: „Fatherland“.



Apologies to our readers who prefer our English posts.

Friday, October 16, 2009

Zeitschneisen (III)

London, 03. Oktober 2005

Da ist es wieder, und haut Dich um: Zuhause, nach (in umgekehrter Startreihenfolge) Abendessen, Nach Hause laufen, Trainieren, Arbeiten, Herumor-ganisieren, Mittagessen, Herumorganisieren, Herumorganisieren, Busfahrt, Frühstück, Erwachen setzt Du die Kopfhörer auf und suchst auf dem Rechner nach den deutschen Gedichten, worin sich die Stimmung ja schon andeutet: Zufrieden, aber verloren zugleich. Dann denkst Du, Otto Sander, ja, sein warmer Monsterbass wäre das Rechte jetzt, bevor Du den schnarrenden Originalaufnahmen von Gottfried Benn wieder weiter lauschen willst.

Und dann sagt er es, dieses Gedicht, jenes, für das selbst oder gerade der scheidende Kanzler einmal gescholten wurde vom naseweisen Medienjournalisten, weil es wohl zu abgeschmackt oder platt sei, dies zum Lieblingsgedicht zu haben und es in einer Talkshow zu rezitieren—geschenkt; aber hier, und jetzt, und an diesem dritten Oktober in einer fremden Stadt, den Schmerz des Aufbruchs und die Verwirrung des Ankommens und vor allem des Alleinseins noch in jeder Zelle, da macht es wieder Bumm!, und es schockgefrieren die Tränen in den Augen:

Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß. […] Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben, und wird in den Alleen hin und her unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Ja, so ist es immer gewesen, im September 1902 oder wann auch immer, und so ist es im Oktober 2005 in London. Und doch endet der Tag mit einem sehr schönen, leisen, leichten, gelungenen Telefongespräch, mit Fiepsen eines Katers aus dem Off. Alles soll gut sein.



Apologies to our readers who prefer our English posts.

Thursday, October 15, 2009

Weg der Erkenntnis

Konstanz, 14. Mai 2003

WEG DER ERKENNTNIS

Man muss sich nur hin und wieder
einen halben Liter Blut
entnehmen lassen,

Dann kommt man wie von selbst
auf so wahre wie schöne
Sätze wie

Bewusstsein ist die erste
Ableitung des Seins.



Apologies to our readers who prefer our English posts.

Wednesday, October 07, 2009

Akkumulator series (ongoing)

„Energie geht nicht verloren“
—Udo Lindenberg

Akkumulator I
Jonas Obleser & Lars Meyer (2009). Goose Fat, Vaccum cleaner content (“Gewöll”), Premium shopping bag. C-print, 1200 x 900 mm



Akkumulator II
Jonas Obleser (2009). Cheap plastic bag, heavy glass lid, 2 British newspapers of opposing political flavour. C-Print, 1200 x 900 mm



BEUYS, ICH FÜHRE DEN ZÄPFCHENBOMBER PERSÖNLICH ÜBER DIE DOCUMENTA / BEUYS, I WILL PERSONALLY GUIDE THE SUPPOSITORY BOMBER THROUGH DOCUMENTA (AKKUMULATOR III)
Jonas Obleser (2009). Worn US-fabricated trainers, Pebble stones, Zip-loc bags. ca. 300 x 300 x 130 mm. C-Print, 1200 x 950 mm