Sunday, May 11, 2008

Verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen

Pfingsten 2008, auf der Zeitmauer, zum Sprung bereit:

“IX.

Mein Flügel ist zum Schwung bereit
ich kehrte gern zurück
denn blieb‘ ich auch lebendige Zeit
ich hätte wenig Glück.
—Gerhard Scholem, Gruß vom Angelus

Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.”

Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte (Reflektion IX). Der Text entstand im Frühjahr 1940. Die Zukunft endete für Benjamin, der das Bild 1921 gekauft hatte und es in Berlin und Paris stets vor Augen hatte, am 26. September 1940 an der französisch-spanischen Grenze, Port Bou, in den Pyrenäen.




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