Telefonat mit dem Freund in Berlin, der seit langem, viel aufrichtiger als ich, gravitätisch um den großen Dichter und Ver-rückten Hölderlin kreist, und ihm posthum hoffentlich schon bald einen wahrlich passenden Lebensraum erschaffen wird. Dabei immer die Frage, für mich: Gab es den einen Moment, gab es den, mit den Worten des Freundes, Bruch in Hölderlins Weg? Meisterlich hat dieses vielleicht entscheidende Stück des Hölderlinschen Werdens einmal W.G. Sebald in Worten gefangen:
«Und also muss [Hölderlin] wieder hinaus.Wie viele Fußreisen hat er nicht schon gemacht in seinem kaum dreißigjährigen Leben, im Rhöngebirge, im Harz, auf den Knochenberg, nach Halle und Leipzig, und jetzt, nach dem Frankfurter Fiasko, wieder nach Nürtingen und Stuttgart zurück? Bald darauf neuer Aufbruch nach Hauptwil, in die Schweiz, von Freunden begleitet durch den winterlichen Schönbuch bis Tübingen, allein dann die raue Alb hinauf und hinab auf der anderen Seite, auf der einsamen Hochstraße nach Sigmaringen. Zwölf Stunden bis von dort an den See. Stille Fahrt, über das Wasser. Im darauf folgenden Jahr, nach einer kurzen Zeit bei den Seinen, wieder unterwegs über Colmar, Isenheim, Belfort, Besançon und Lyon, west- und südwestwärts, mitten im Januar durch die Niederungen der oberen Loire, über die tief verschneiten, gefürchteten Höhen der Auvergne, durch Sturm und Wildnis, bis er zuletzt anlangt in Bordeaux. Sie werden hier glücklich sein, sagt ihm bei seiner Ankunft der Konsul Meyer, doch sechs Monate später ist er, erschöpft, verstört, mit flackerndem Auge und wie ein Bettler gekleidet wieder in Stuttgart retour. Nimm freundlich den Fremdling mir auf. Was war es, das ihm widerfuhr? Fehlte ihm seine Liebe, konnte er die gesellschaftliche Zurücksetzung nicht verwinden, oder hat er am Ende in seinem Unglück zu vieles vorausgesehen? Wusste er, dass sich das Vaterland abkehren würde von seiner friedfertigen, schönen Vision, dass man seinesgleichen bald überwachen und einsperren würde und es keinen Ort für ihn gab außer dem Turm. A quoi bon la littérature?»
[«So [Hölderlin] must leave again. He has gone on so many walking tours in his life of barely thirty years, in the Rhone mountains, the Harz, to the Knochenberg, to Halle and Leipzig, and now, after the Frankfurt fiasco, back to Nürtingen and Stuttgart. Soon afterward, he sets off again to Hauptwil, in Switzerland, accompanied by friends through the wintry Schönbuch to Tübingen, then alone up the rugged mountain and down the other side, on the lonely road to Sigmaringen. It is twelve hours’ walk from there to the lake. A quiet journey across the water. The next year, after a brief stay with his family, he is on the road again, through Colmar, Isenheim, Belfort, Besançon, and Lyons, going west and southwest, passing through the lowlands of the upper Loire in mid-January, crossing the dreaded heights of the Auvergne, deep as they are in snow, going through storms and wilderness until he finally reaches Bordeaux. You will be happy here, Consul Meyer tells him on his arrival, but six months later, exhausted, distressed, eyes flickering, and dressed like a beggar, he is back in Stuttgart. Receive me kindly, stranger that I am. What, exactly, happened to him? Was it that he missed his love, could he not overcome his social disadvantage, had he after all seen too far ahead in his misfortune? Did he know that the fatherland would turn away from his vision of peace and beauty, that soon those like him would be watched and locked up, and there would be no place for him but the tower? À quoi bon la littérature?»]
Exzerpt aus W.G. Sebald, Rede anlässlich der Eröffnung des Literaturhauses Stuttgart, November 2001; translated by Anthea Bell)
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