„You want to suffer? Go to a rockshow.“ Das ist vom (Rock–)Musiker Jarvis Cocker. Und er hat natürlich recht: Es gibt ja wenig schlimmeres als Konzerte. Die Menschen um einen riechen streng, das Bier wird warm, auf Platte klang alles viel besser, weil der Gitarrist zu faul oder zu unmusikalisch ist, die schönen Harmonie-Gesänge der Studioversion mitzusingen, et cetera pp. Und aus diesen Gründen sollte man auch auf das sogenannte Live-Aufführen von Musik natürlich völlig verzichten, von Hörer–, Veranstalter– wie von Künstlerseite, wirklich große Seelen wie die Beatles und Brian Wilson haben es ja alles vorgemacht.
Gäbe es da nicht ein Orchester. Das Andromeda Mega Express Orchestra. Die heissen wirklich so, und es sind 20 Musikerinnen und Musiker. Sie tragen Röcke, spielen Fagotte und Bratschen, Flöten und Bassklarinetten, und legen wie Ringo Handtücher auf die Standtom, oder sie kommen aus Osteuropa oder Surinam oder von Plan Nine from outer space, man weiss es nicht, und der Schweiz, und tragen putzige Namen wie Andi oder Johannes. Sie benutzen kaum bis keinen Strom, denn der ist schmutzig und rauscht, und, ganz wichtig, weil Ende aller Diskussion und Beginn aller großen Kunst: Sie sind allesamt studierte Musikerinnen und Musiker und beherrschen also schlicht einmal ihre Instrumente und sind zeitlich und räumlich in der Partitur orientiert.
Denn dann kann der Zauber beginnen.
Nachdem Daniel Glatzel, der schlanke Mann an den Klarinetten, sein Orchester und das Publikum im kleinen, stickigen ehemaligen Schnapsverkostungsetablissement “Horns Erben” zum Abschalten der Mobiltelefone aufgefordert hat, verlassen wir unsere Parking position, taxien die Rollbahn entlang zu einem Surren aus hunderttausend fast sinusförmigen, sich überlagernden Glissandi, die den Bratschen und Violinen und Celli und Flöten und dem (gerne auch mit dem Geigenbogen gespielten) Vibraphon entsteigen, um schliesslich in vollem Schub in ein Reich des nicht geahnten sonischen Glücks aufzubrechen.
Ich stehe in diesem Strom, inmitten der selben stickigen Luft, ein nach Eisenstahl schmeckendes Mineralwasser in der Hand, aber das Andromeda Mega Express Orchestra hat mich längst in seinen Traumpalast entführt, wo Spike Jones und Spike Jonze mit Richard Strauss und Stanley Kubrick um die Wette Rollschuh mit der Weltall-Harfe fahren, wo man lässig Mark Mothersbaugh und Wes Anderson beobachten kann, wie sie eine Fussballmannschaft Elfen und Klabauter zum Mitsingen animieren, und John Zorn und La Monte Young rufen einander verschmitzt Primzahlen zu, und wo das Rattern eines alten Projektors von einem fanatisch und frettchenhaft feilenden Rhythmus-Duo um Andi Waelti und Andy Haberl perfekt simuliert wird.
Situationismus und Perfektion im Detail finden hier ungeahnt zueinander. Gezielte, kontrollierte Massenimprovisation, für die die leider nur als genialisch zu bezeichnenden Kompositionen mit modularen Konzepten Raum schaffen. Die Riesen-Band schert aus in kleinere Formationen; deren Sektionsleiter zählen mit großen Gesten, die das Klopfen auf den Kopf und das sequentielle Einfalten der Finger wie beim Zeitfahren umfassen, auf eine beliebige Achtel im Riesen-Maelstrom eines bösen Grooves (engl. ~ Rundlauf) ihre dann von allen abgefeuerten Skalen ein. Es ist zum Heulen, vor Glück.
Die Späße haben ihren Platz, und tanzen mag man auch, so ganz verhalten, wie ein Hund, der im Traum ja auch nur die Tatzen wippt. Weiße Einhörner mit Nutella-verschmierten Mündern schauen vorbei (das Stück heisst wirklich so), und als Zugabe wird die Komposition eines „brasilianischen Albino-Zwergs“ (es handelt sich um Hermeto Pascoal) neu für dieses Sound-Raum– und Zeitschiff eingerichtet. All diese das Absurde nicht mehr nur streifenden Bilder und Momente leben sorgsam eingebettet innerhalb des Monsters, das das Andromeda Mega Express Orchestra darstellt. Es ist Kunst, die über sich selbst weit hinausweist; es ist Musik, die viel größer ist als ihre Musiker selbst — wie dies ja im Übrigen bei aller wirklich großer Musik der Fall ist; Slayer, die Beatles, Jobim, wenn sie wissen, was ich meine.
Ach so, für die berühmten Geistesverwandten aus Weilheim, The Notwist, haben diese Musikerinnen und Musiker ihre Dienste auch getan. Aber, bitte, kaufen Sie sofort die neue Schallplatte, die von den Musikern selbst als sehr gut und getreu eingeschätzt wird, und stellen Sie sicher, dass sie sobald als möglich das Andromeda Mega Express Orchestra selbst und wahr– und leibhaftig erleben.
Apologies to our readers who prefer our English posts.
Ein grosser Text. Eigentlich hatte ich erwartet, dass er aufhört mit "Kaufen Sie diese Platte und geben Sie sie nicht mehr her."
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