Tuesday, October 24, 2006

Auf der Mauer selbst, zum Sprung bereit

Dorthin zurueck, wo alles begann, mit der Idee der Mauer aus Zeit. Wir hoeren Ernst Juenger, der in einem grossen Haufen aus Wort 1959 einige unfassbar luzide Sentenzen vergrub:

„Das ist das Schauspiel am Abgrund, hoch auf der geschichteten Mauer, die »Geschichte« heißt: daß der Mensch sich nicht nur zum Sprung gezwungen sieht, sondern daß er ihn sogar wagen will. Damit verändern sich sowohl Determination wie Evolution.

Der Mensch fühlt, daß ihm als Menschen die Vernichtung droht. Oft zeichnete der Mythos dieses Schicksal vor. […] Wir sahen, daß von Willensfreiheit nur auf einer schmalen Kuppe gesprochen werden kann. Doch gerade hier wird entschieden, was unentbehrlich ist bei der Verwandlung, wertvoller als Leben, und nicht geopfert werden darf. Solange in dieser Hinsicht Zweifel herrschen, aber auch solange sie noch nicht geherrscht haben, sind wir noch innerhalb der nihilistischen Passage, diesseits der Linie.

Der Mensch kann nicht darüber entscheiden, was an archaischer und mythischer Substanz, wohl aber darüber, was an geschichtlich-humanem Erbe mitgenommen wird. Hier spricht Bewußtsein mit, und damit Verantwortung. Das kann auch Reinigung bedeuten, indem es zugleich möglich erscheint, daß historisch-politische Elemente der Selektion zum Opfer fallen und als überwunden zurückbleiben, vielleicht sogar der Staat. Darin vollzieht sich mehr und Schmerzhafteres als im bloßen Wechsel moralischer Anschauungen, wie ihn die Panik erzeugt. Sie ist kein Zoll für den Eintritt in die transhistorische Welt.“

Ernst Jünger, An der Zeitmauer (1960), Abschnitt 166

Sunday, October 15, 2006

Where do we go from here?


"Alle Momente unseres Lebens scheinen mir dann in einem einzigen Raum beisammen, ganz als existierten die zukuenftigen Ereignisse bereits und harrten nur daruf, dass wir uns endlich in ihnen einfinden, so wie wir uns, einer einmal angenommenen Einladung folgend, zu einer bestimmten Stunde einfinden in einem bestimmten Haus. Und waere es nicht denkbar, fuhr Austerlitz fort, dass wir auch in der Vergangenheit, in dem was schon gewesen und groesstenteils ausgeloescht ist, Verabredungen haben und dort Orte und Persoenlichkeiten aufsuchen muessen, die, quasi jenseits der Zeit, in einem Zusammenhang stehen mit uns?"

W.G. Sebald, Austerlitz , p.367 — In memoriam Elfriede Kallenberg, 15.10.1917–26.02.2001

Saturday, October 14, 2006

Americana: What happened to Campbell's?


In Atlanta, GA, we wondered why Campbell's Soup has gone ultra-camp, and what the AIDS ribbon is doing there. Andy Warhol would know, probably.

Wednesday, October 11, 2006

Hannes found the void in time

As time flies by,
and as I meander between my own
past and a chimeric future ahead,

I travel forward to the next christmas
break thinking where I might spend it,
in my hometown maybe, and then I
suddenly shuttle backwards and it is
christmas 2001 and I sit in the dark,
both literally (it's dark wooden benches and tables
in a small pub) and pharmacologically (I am sure
it is hours after we actually got here),

and a face emerges from the haze my brain
is stuck in, or rather a voice. It is the voice
of the great shaman Hannes Woidich. And,
as we chat and rant about photography, both
his field of expertise and his pet hate at that time
("if every picture taken would leave a blank hole
instead of the original scenery..." he wondered,
years before the camera phones from hell
would prove him right) --
he suddenly says, 'you know, Jonas',

'Du musst die Zeit mir der Wahrheit
multiplizieren, dann fällt die ganze
Scheiße raus.'

It takes me several shots of schnaps
to recover from that outburst of truth,

and I think that, to this day, I have
not fully recovered from it. His truth
is with me every day, and it offers great
consolation if the pain and the absurdity
and the sheer ugliness of life (German
transl. Scheiße) seem to take over.
I then use to remind myself that a little
simple third-grade algebra operation
with time will do the job.

Hannes is a great artist in residency in Dortmund.

Wir fallen aus der Zeit

"Das Außer-der-Zeit-Sein, sagte Austerlitz, das für die zurückgebliebenen und vergessenen Gegenden im eigenen Land bis vor kurzem beinahe genauso wie für die unentdeckten überseeischen Kontinente dereinst gegolten habe, gelte nach wie vor, selbst in einer Zeitmetropole wie London. Die Toten seien ja außer der Zeit, die Sterbenden und die vielen bei sich zu Hause oder in den Spitälern liegenden Kranken, und nicht nur diese allein, genüge doch schon ein Quantum persönlichen Unglücks, um uns abzuschneiden von jeder Vergangenheit und jeder Zukunft. Tatsächlich, sagte Austerlitz, habe ich nie eine Uhr besessen, weder einen Regulator noch einen Wecker, noch eine Taschenuhr, und eine Armbanduhr schon gar nicht."

W.G. Sebald, Austerlitz , p.150

Sunday, October 08, 2006

Ein Buch fuer alle Filmfreunde, und fuer Doktor El Baradei

Ich war noch nie in Nordkorea. Ich war sogar noch nie in Asien. Das macht aber ja nichts, weil Christian Kracht und seine Freunde ueberall hin fahren fuer mich, und wenn es nur wegen der Stempel im Pass ist.

Eva Munz und Lukas Nikol haben in diesem fein anzufassenden Band (Querformat, laesst sich hervorragend an den kurzen Seiten in einer Hand tragen, zum Beispiel beim Marsch durch andere Filmkulissen wie London) Bildeindruecke aus Nordkorea versammelt, und ‚der komplizierteste Ironiker der deutschen Gegenwartsliteratur’ Christian Kracht hat einen noch schoeneren Text dazu geschrieben. Es werden zur Enttaeuschung aller Feuilletonmitarbeiter keine Markenartikel erwaehnt und auch der Dandyismusverdacht greift diesesmal etwas kurz. Stattdessen finden sich Photographien, die aus der Zeit gefallen scheinen, denn sie tragen eine Patina wie wir sie aus Guido Knopps grossartigen ZDF-Historienfilmen ueber die deutschen Versuche am Totalitarimus kennen.

Die Juche-Philosophie, eine nordkoreanische Spezialitaet, kann jeder Einzelne versuchen in den vielen Farbtafeln wieder zu finden, und es empfiehlt sich ein Oszillieren zwischen Krachts einleitenden Worten und den Farbphotographien von Munz und Nikol. Die Zitate aus Kim Jong Ils Standardwerk zur Filmkunst sind zwischen oder gar in die Photographien montiert, und ein Schelm oder ein Feuilletonist wer Boeses dabei denkt: Ganz offensichtlich hat naemlich Kim Jong Il alles verstanden, er ist, frei nach Emmanuel Carrere einer der wenigen, der den Mann am Tresen gesehen hat, welcher das Bierglas einschenkt (und wir alle leben im Sonnensystem, das lediglich eine Luftblase im Bier darstellt). Vielleicht aber auch haben stattdessen Kracht, Munz, und Nikol endlich fuer uns aus dem Bierglas geschaut und uns mit anruehrend schoenen Bildern und Worten gezeigt, das nicht alles immer so ist es wie es scheint. Lieber Doktor El Baradei, kaufen Sie sich dieses Buch und geben Sie es nie wieder her.

Wenn ich nun gleich heim spaziere und mich auf zahlreichen CCTV-Kameras verewige, denke ich an Nordkorea, die groesste Filmkulisse der Welt, und dies alles dank dieses schoenen Buchs. Dass es nur beim Versand Zweitausendeins (2001) zu erwerben ist, wuerde Stanley Kubrick, Arthur C Clarke, und nicht zuletzt den Filmfreund Kim Jong Il sicher sehr freuen.

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Adnote -- Freund O. bemerkte dazu am 01. Oktober
sehr korrekt folgendes:

"Hatte gestern in der sueddeutschen
in einer kleinen notiz gelesen, dass sich kim jong il
zuweilen von doppelgängern vertreten lässt,
'die dem herrscher nordkoreas so ähnlich sehen,
dass selbst regierungsvertreter nichts von der
täuschung wüssten'.

Da ich gerade in gesamtkunstwerk-totalkunst-totalitarismus
stecke, wurde mir gewahr, welch absurdität in der
vorstellung steckt, dass die vielleicht nicht nur zur
sicherheit dienen sondern das maß der inszenierung um
eine weitere realitätspotzenz erhöhen und den ganzen
totalitarismus eigentlich zurück ins gesamtkunstwerk heben,
dessen einziger rezipient eben kil jong il ist mit sich
und doch nicht ich als protagonisten."

Saturday, October 07, 2006

Fall ins Kristall

Today was a good day. As if to keep alive the ever-meandering
stream of life between the darkest and the lightest hours of our
lives, it is exactly today that I would like to pay tribute to the
darker sides. Maybe it is them that keep me alive? As I wrote in
the darkest hour in May 2006:


Variationen über den Fall ins Kristall

„Kalte Persona – Im Bauch des Fisches“
Helmut Lethen

„We're like crystal, we break easy
I'm a poor man, if you leave me”
New Order

1

Fall ins Kristall. Wenn sich die Welt um Dich schließt. Wenn Du ganz ohne eigene Tätigkeit versinkst. Wenn alles zumacht. Der Fall ins Kristall. Die Temperatur sinkt, und sinkt, und sinkt.

Es ist eine Nachricht, eine Erkenntnis, die sich einschleicht. Es ist nicht, gar nicht, der Schlag, der plötzliche Schock, der Dich heimsucht. Es ist das erst unmerkliche, dann leicht beschleunigte Herunterkühlen der Welt um Dich. Wo erst noch Bewegung, Rauschen, wohliges Tummeln ist, wird es bald jedem Molekül zu kalt.

Schmerz, also, könnte die Abwesenheit von Bewegung sein. Kann das sein? Eigentlich nicht, vermutlich eher: ist Schmerz ein Maß der Änderung. Der Fall ins Kristall selbst, also: der Fall, ist es, der reißt, der schmerzt.

Ich kannte einmal eine junge Assistenzärztin, die ihren Probanden Schmerz zufügte durch Temperatursturz, wenn auch eher plötzlichen. Aber die Zeitkonstanten mögen anders sein an der Peripherie, am Zeigefinger, und im Zentrum, im Selbst.

2

Fall ins Kristall. Feels like crystal. Kristallin: Du selbst, und jedes Teil von Dir, minimiert die Reibung mit den Nachbarn, also den Anderen, und den anderen Teilen des Selbst; nur sich nicht bewegen, nur nichts entscheiden, auch: nur nichts ändern, nicht noch mehr. Wenn schon keine Umkehr möglich ist, dann wenigstens auch bitte kein Fortschreiten, kein Verschieben mehr; lass mich, ich muss so sein, jetzt, allein, und also tragisch: starr. Wenn diese Trauerstarre ihre Funktionalität einbüsst, nach Tagen, Wochen, dann bleibt die Kälte als natürliche Folge der ruhenden Daseins-Moleküle, denen als einziger Weg den Kontakt untereinander zu minimieren nur der Stillstand blieb.

3

Fall ins Kristall. Kein Gleiten, kein Schweben, kein Steuern, der freie Fall. Dies war die letzte Bewegung die dem Wesen zuteil wurde. Sturz aus zu sicher geglaubten Höhen; Druckabfall zuerst, dann ein Loch im Fenster hinten links. Ein kurzer Impuls, der Dich zu und dann aus diesem Ausweg zerrt; und draußen nur noch Kälte, und Dein durch die eigene Masse ermöglichter Sturz ins Ungewollte, ins Schwarze und höchstwahrscheinlich auch Tödliche. Deine relative Bewegung, rasend durch die paradoxe Hölle der minus sechzig Grad, friert das Leben von außen kommend ein, drängt es erst zurück, kesselt es ein, wünscht ihm den Tod und bringt diesen schließlich mit ihren un-fassbaren Temperaturen. Die letzten Lebensgeister sammeln sich in Kleingruppen, und verschanzen sich, graben sich ein wo sie noch können und schießen scharf auf alles. In Strukturen des Limbischen Systems, in der Faust, in der Zunge vielleicht. Sie schießen, und merken gar nicht, dass dies auch nichts mehr hilft, die Kälte kriecht auch ihnen durch die Stiefel, und die Finger werden ihnen an ihren armseligen kleinen Faustfeuerwaffen festfrieren, schließlich.

4

Fall ins Kristall. Die Matrosen werfen ihn über die Brüstung. (Sie wussten sich nicht anders zu helfen, und glaubten dem Los dann doch nur zu gerne, dass es an ihm gelegen haben könnte; und hatte er sie nicht sogar gebeten, ihn zu werfen, auf dass der Sturm ende?) Und wo die ersten Meter durch das Salzwasser im Schock der nasskalten Umgebung verstreichen, verfliegen, kann von kristalliner Starre keine Rede sein. Wenn aber der Schlund des Fisches ihn verschwinden hat lassen im Schlick des Mageninhalts, dann, allein schon ob der Dunkelheit, setzt jede Bewegung aus. Innehalten – insofern hat die Kälte, die Starre, auch etwas Aktives, Zielgerichtetes, Richtiges ganz plötzlich.

[Unvergessen ist ihm, wie die Katze ruht, erst einmal einfriert in Bewegung und auch Wollen, wenn man eine Decke über sie wirft. Nicht Panik, nicht Wärme durch Reibung und Bewegung, sondern Starre, Umkehr, Einkehr, Abwarten sind hier bei einem solchen Prachtexemplar der evolutionären Anpassungsleistungen zu beobachten und zu erlernen.]

So sind die drei Tage und drei Nächte, alle dunkel wie die Nacht wohlgemerkt, kristallin und klar und rein; nicht kontaminiert mit nutzlosem Wälzen von Gedanken oder hilflosem Antrommeln gegen die Gedärme des Fisches. Der Fisch hat ihn gerettet, nicht gefangen; er hält ihn, der Fisch ist die Decke, die über ihn geworfen wurde von wissender Hand, um ihn zur Einkehr, zur auferlegten Stille, Starre, Kälte zu lenken.

5

Fall ins Kristall. Und damit: Fall in die Zerbrechlichkeit. So weit noch gar nicht gedacht: Dass die kristalline Form zwar eine aristokratische ist, eine wahre, und reine, vielleicht die einzige auch, in der sich Schmerz ertragen lässt, eben (siehe oben) weil der Schmerz quasi als vorüber betrachtet werden kann, wenn der Zielzustand des Kristalls erst einmal erreicht ist; dass aber auch die kristalline Form die fragilste und trügerischste ist.

So standhaft, unbeeindruckt das Kristall sich den stetigen Widrigkeiten des Lebens gegenüber verhält, so angreifbar macht es sich gegen die kleinste Erschütterung, die unerwartetsten kleinen Eruptionen, die Stürze vom Tisch aus niedriger Höhe, vom Platz, wo es zu liegen kam. Das Selbst zerschießt in alle erdenklichen Richtungen, und mit ihm alle Definition von Selbst, alle Kohärenz, also Kohäsion, auch alle letzten Reste von Miteinander, von sozialem Gefüge, von Einbettung und Anbindung.

Wer das Kristall sucht, um sich vor dem Schmerz zu hüten, wählt den verlockendsten und den gefährlichsten aller denkbaren Aggregatzustände.

On memory: W.G. Sebald

„Going home is not necessarily a wonderful experience. It always comes with a sense of loss, and makes you so conscious of the inexorable passage of time.
If you're based in two places, on a bad day you see
only the disadvantages everywhere. On a bad day, returning to Germany brings back all kinds of spectres from the past.”

(W.G. Sebald)

Max Sebald is my new friend. Mind you, he died in December 2001 in a car crash (maybe caused by a heart attack; what a scenario) in Norwich where he had lived since 1970 or so. He is my new friend as he too was a traveller between England and Germany, between countries and cultures, and, more importantly, between the past and the present, then and now.

Go and buy (and read) all his books. I think he is also a safe bet as he was a competent and proactive cooperator in the translation of his (originally German) prose and essays, therefore being one of the few authors where both German and English versions can be trusted upon.