Wednesday, April 30, 2008

Das Jahrhundert der Johanna Jürfeld

—für Peter Bichsel, W.G. Sebald, und Johanna Jürfeld natürlich

Dies ist die Geschichte von Johanna Jürfeld. Johanna Jürfeld war eine außerordentliche Frau. Sie schaffte, was viele von uns nur zu gern können würden: Sie wusste zu leben. Sie besaß ein Maß der Dinge, und wusste auch, wann es genug war mit allem. Vor allem wusste sie, ab einem gewissen, uns unbekannten Zeitpunkt, dass sie ein Jahrhundert, ihr Jahrhundert, überleben wollen würde. Und so geschah es.

Johanna Jürfeld war 1899 geboren worden. Ebendamals ließ der amerikanische Kongress Wahlmaschinen zu, eine Technik, die ganz offensichtlich im Jahre 2000, als Johanna Jürfeld starb, immer noch nicht funktionierte. Es ist sehr wenig bekannt über Johanna Jürfeld, und wir wissen nicht, wie sie den sogenannten Ausbruch des ersten Weltkriegs erlebte, ob sie um Franz Ferdinand trauerte, wie vielleicht nur Kinder um Fremde trauern können, in ihrer aufrichtigen Mischung aus Faszination und Schock, so wie ich—wenn dieser Zeitsprung erlaubt ist—um Indira Ghandi trauerte, mir ist als sei es der 2. November 1984 gewesen, als ich vom Kindergeburtstag nach Hause kam. Oder sah die bereits 15jährige nicht eher in der Zeitung das berühmte Bild des nur wenige Jahre älteren, eingeschüchtert dreinblickenden Attentäters Gavrilo Princip, und klopfte ihr Herz nicht für Bruchteile von Sekunden für den kühnen jungen Mann, der der Todesstrafe entging?

Wir wissen ebenso wenig, wie Johanna Jürfeld den Wechsel der Regime, das Exil des Kaisers über die Leichen der Revolutionäre im Landwehrkanal hin zum nicht unsympathischen rheinischen Singsang des Gnoms Goebbels erlebte. Auch ist nicht bekannt, wie es Johanna Jürfeld vorkommen musste, in Schwerin zu sein als der große Krieg verloren war und alle sich sehr verraten und verkauft vorkommen mussten, und ob sie es wohl für die richtige Seite Deutschlands hielt, in der sie nun einmal lebte.

Vielleicht war es ja schon damals, dass sie gedachte sich nicht mehr lumpen zu lassen von den Gezeiten, den unberechenbaren, der sogenannten Geschichte und dass sie ihre eigene Zeit leben würde. Vielleicht war es aber auch erst, als 1989 ein weiteres Regime sich als sehr vergänglich herausstellte, und Johanna Jürfeld mit 90 Jahren schon wieder in blühende Landschaften umziehen und neues Geld benutzen sollte, dass sie beschloss, ihr Jahrhundert zu überleben.

So lebte sie, ging einfach weiter jeden Tag hinunter zur Strasse, schwatze mit den netten jungen Leuten nebenan, machte ein Kreuz nach dem anderen in ihren Kalender, und wartete. Wartete, dass es 1999 würde. Und so kam es, und auch das Jahr 1999 ging vorbei, und Frau Jürfeld hatte ihr Ziel erreicht. Der Bürgermeister wollte sich nicht so recht freuen mit der Hundertjährigen, es gebe ja auch außerdem zwei ältere Frauen in Schwerin, und das solle doch die Gemeinde tun, doch mit der Gemeinde hatte Frau Jürfeld nichts zu schaffen, und so feierte sie eben bescheiden allein, kein Helmut Kohl oder Mitterand kamen mit dem Hubschrauber wie bei Ernst Jünger damals, aber Frau Jürfeld hatte ja auch nicht Tausende von Buchseiten vollgedacht in ihren Hundert Jahren, sie hatte einfach gelebt und gewartet.

Und als ihr Jahrhundert mit den fünf Regimes und mit den siebzig Jahren im selben Haus, und den vierzig davon allein, vollbracht und ein Jahrtausend en passant auch noch besiegt war, da legte sich Johanna Jürfeld einfach hin und ließ es gut sein.



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