Monday, July 28, 2008

Temporäre Autonome Zonen (II): Unzutreffendes bitte streichen

—für Peter Bichsel, mal wieder

«Ich begann mit den Bildbänden. Ich weiss noch, ich kramte hastig als Lineal ein Stück Pappe heraus, nahm den Bleistift, und klemmte die Zunge zwischen die Lippen. Ein dicker, schwerer Kaffeetischband über die Rolle der Photographie in Sebalds Werk erschien passend und programmatisch: Ich schlug den Band auf, und begann auf der Titelseite mit dem Anlegen des Pappstreifens, las noch einmal kurz, bewunderte aber mehr die fette Antiqua; ganz ähnlich einem Kleinbauern vielleicht, der dem Lamm noch einmal über das Fell fährt bevor er das Bolzenschussgerät ansetzt.

Ich strich alles durch.
Der erste Strich war der schönste, befriedigendste, im Nachhinein betrachet.

Die Titelseite war, wie in allen Bänden, schnell erledigt, ich genoss das Geräusch des spitzen Bleis; auf dem beschichteten Kunstband-Papier klang es besonders hell, von gesunder Aggressivität. Für den restlichen Text hatte ich beschlossen, nicht mehr so genau hinzuschauen, nur auf den Seitenspiegel, den Satz zu achten; aber dem eigentlichen Ziel ging ich gewissenhaft nach: Ich strich einfach alles aus, alles Erzählte, Behauptete, Geschriebene.

Viele Wochen sind nun verstrichen (ein Wortspiel, verzeihen Sie), und ich habe darüber die bessere, neue Art entdeckt, die Zeit zu messen: Einmal auf die Toilette dauert so lange wie das Ausstreichen von Seite 118 bis 122 in Thomas Bernhards Verstörung, vom Klingeln des Briefträgers bis zum Anruf meiner geschiedenen Frau am Abend vergehen Less than Zero und etwa das Glossar der Elements of typographical style; die Mutanten im Fahrradgeschäft schätzten ganz richtig, die Reparatur würde höchstens zehn Bände der Suhrkamp-Monographien-Reihe lange dauern (das Nachwort der Minusvisionen schaffte ich nicht mehr ganz).

Ich bin schnell geworden, doch bleibe ich sorgfältig und negiere fleissig das Wort. Das geschriebene Wort ist vorbei, nur noch das gestrichene zählt; es zählt, im Wortsinne. Man kann alles damit zählen, und was Ihnen nun wie eine Erzieh­ungs­maßnahme oder ein Wahn höherer Ordnung vor­kom­men muss, ist einfach eine ganz hervorragende Art, die Zeit auszuradieren.

Ich plane, nächstes Jahr, wenn die Blätter treiben, mit meiner bescheidenen Bibliothek fertig zu werden. Paco, der Nachbar, der manchmal in meinen bereits durchgestrichenen Bänden blättert und nach dem rechten sieht, schlug vor, ich solle doch einen Praktikanten anstellen; aber ich muss es selbst tun, es ist ja auch eine große Versuchsanordnung, eine Reinigung; Die Idee verfängt, langsam. Ich stehe in Verhandlungen mit großen Verlegern, so soll ich zum Beispiel gegen einen bescheidenen Obulus im Kalendjahr 2011 das gesamte FAZ-Archiv durchstreichen, und irgendwann will ich nach Amerika, dort soll es noch viel größere Bibliotheken geben, mit einem Bleistift, und meiner Pappe, und alles werde ich ausstreichen, redigieren, negieren, bis nichts mehr bleibt.»


Apologies to our readers who prefer our English posts.

1 comment:

  1. AnonymousJuly 28, 2008

    Ich ringe mit mir, ob ich das Durchstreichen an diesem Text selbst als over the top empfinden soll, oder ob es eine dieser selbstreferentiellen Notwendigkeiten darstellt.

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