Saturday, May 30, 2009

Weltende, Dreissigster Mai

“Komm, wir wollen uns näher verbergen
Das Leben liegt in aller Herzen
Wie in Särgen”
—Else Lasker-Schüler

‘Das war noch damals gewesen, als wir noch “klasse” sagten, wenn wir etwas gut fanden.’ ― ‘Genau, damals, als die Frau im Jugendhaus immer ihren Kiefer so ganz speziell nach vorne schob, wenn sie etwas “klasse” fand.’ ― ‘Und ihre Zähne nicht auseinander bekam dabei. Ich könnte mich kaputt lachen.’ ― ‘Spiralen der Erinnerung; ist das von Lieske?’ ― ‘Nein, von Köhnke.’ ― ‘Wer hat es bei wem gestohlen?’ ― ‘Ist doch egal, solange meine Erinnerungen sich nur so schön im Kreis drehen dürfen…’ ― ‘…Und ich mich an ihnen so schön schwindeln kann.’ ― ‘Du bist schön. Ich liebe Dich vielleicht.’ ― ‘Darf man das sagen; lieben, vielleicht?’ ― ‘Ja, das darf man. Man darf sich ein großes Und tätowieren lassen, und man darf nicht Bescheid wissen, und man darf seine Lebenszeit verschwenden, und man darf seine Sozialarbeiter auslachen.’ ― ‘Dann liebe ich Dich vielleicht auch.’



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Sunday, May 24, 2009

Ich tanze mit Elfen: Das Andromeda Mega Express Orchestra

„You want to suffer? Go to a rockshow.“ Das ist vom (Rock–)Musiker Jarvis Cocker. Und er hat natürlich recht: Es gibt ja wenig schlimmeres als Konzerte. Die Menschen um einen riechen streng, das Bier wird warm, auf Platte klang alles viel besser, weil der Gitarrist zu faul oder zu unmusikalisch ist, die schönen Harmonie-Gesänge der Studioversion mitzusingen, et cetera pp. Und aus diesen Gründen sollte man auch auf das sogenannte Live-Aufführen von Musik natürlich völlig verzichten, von Hörer–, Veranstalter– wie von Künstlerseite, wirklich große Seelen wie die Beatles und Brian Wilson haben es ja alles vorgemacht.

Gäbe es da nicht ein Orchester. Das Andromeda Mega Express Orchestra. Die heissen wirklich so, und es sind 20 Musikerinnen und Musiker. Sie tragen Röcke, spielen Fagotte und Bratschen, Flöten und Bassklarinetten, und legen wie Ringo Handtücher auf die Standtom, oder sie kommen aus Osteuropa oder Surinam oder von Plan Nine from outer space, man weiss es nicht, und der Schweiz, und tragen putzige Namen wie Andi oder Johannes. Sie benutzen kaum bis keinen Strom, denn der ist schmutzig und rauscht, und, ganz wichtig, weil Ende aller Diskussion und Beginn aller großen Kunst: Sie sind allesamt studierte Musikerinnen und Musiker und beherrschen also schlicht einmal ihre Instrumente und sind zeitlich und räumlich in der Partitur orientiert.

Denn dann kann der Zauber beginnen.

Nachdem Daniel Glatzel, der schlanke Mann an den Klarinetten, sein Orchester und das Publikum im kleinen, stickigen ehemaligen Schnaps­verkost­ungs­etablisse­ment “Horns Erben” zum Abschalten der Mobiltelefone aufgefordert hat, verlassen wir unsere Parking position, taxien die Rollbahn entlang zu einem Surren aus hunderttausend fast sinusförmigen, sich überlagernden Glissandi, die den Bratschen und Violinen und Celli und Flöten und dem (gerne auch mit dem Geigenbogen gespielten) Vibraphon entsteigen, um schliesslich in vollem Schub in ein Reich des nicht geahnten sonischen Glücks aufzubrechen.

Ich stehe in diesem Strom, inmitten der selben stickigen Luft, ein nach Eisenstahl schmeckendes Mineralwasser in der Hand, aber das Andromeda Mega Express Orchestra hat mich längst in seinen Traumpalast entführt, wo Spike Jones und Spike Jonze mit Richard Strauss und Stanley Kubrick um die Wette Rollschuh mit der Weltall-Harfe fahren, wo man lässig Mark Mothersbaugh und Wes Anderson beobachten kann, wie sie eine Fussballmannschaft Elfen und Klabauter zum Mitsingen animieren, und John Zorn und La Monte Young rufen einander verschmitzt Primzahlen zu, und wo das Rattern eines alten Projektors von einem fanatisch und frettchenhaft feilenden Rhythmus-Duo um Andi Waelti und Andy Haberl perfekt simuliert wird.

Situationismus und Perfektion im Detail finden hier ungeahnt zueinander. Gezielte, kontrollierte Massenimprovisation, für die die leider nur als genialisch zu bezeichnenden Kompositionen mit modularen Konzepten Raum schaffen. Die Riesen-Band schert aus in kleinere Formationen; deren Sektionsleiter zählen mit großen Gesten, die das Klopfen auf den Kopf und das sequentielle Einfalten der Finger wie beim Zeitfahren umfassen, auf eine beliebige Achtel im Riesen-Maelstrom eines bösen Grooves (engl. ~ Rundlauf) ihre dann von allen abgefeuerten Skalen ein. Es ist zum Heulen, vor Glück.

Die Späße haben ihren Platz, und tanzen mag man auch, so ganz verhalten, wie ein Hund, der im Traum ja auch nur die Tatzen wippt. Weiße Einhörner mit Nutella-verschmierten Mündern schauen vorbei (das Stück heisst wirklich so), und als Zugabe wird die Komposition eines „brasilianischen Albino-Zwergs“ (es handelt sich um Hermeto Pascoal) neu für dieses Sound-Raum– und Zeitschiff eingerichtet. All diese das Absurde nicht mehr nur streifenden Bilder und Momente leben sorgsam eingebettet innerhalb des Monsters, das das Andromeda Mega Express Orchestra darstellt. Es ist Kunst, die über sich selbst weit hinausweist; es ist Musik, die viel größer ist als ihre Musiker selbst — wie dies ja im Übrigen bei aller wirklich großer Musik der Fall ist; Slayer, die Beatles, Jobim, wenn sie wissen, was ich meine.

Ach so, für die berühmten Geistesverwandten aus Weilheim, The Notwist, haben diese Musikerinnen und Musiker ihre Dienste auch getan. Aber, bitte, kaufen Sie sofort die neue Schallplatte, die von den Musikern selbst als sehr gut und getreu eingeschätzt wird, und stellen Sie sicher, dass sie sobald als möglich das Andromeda Mega Express Orchestra selbst und wahr– und leibhaftig erleben.


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Saturday, May 23, 2009

Eine weitere Kampfschrift gegen das Bild

Wo gehen Sie hin um zu träumen? — Die Bilder sind mir fad geworden. Ich weiss nicht, woher das Wort fad stammt, aber seine vielleicht nur phonetische Ähnlichkeit zum englischen to fade trifft es gut. Die Bilder laufen nicht mehr nur, sie bilden zunehmend ein Kontinuum mit unserer Existenz aus, und unter ihrer zäh werdenden, in tausend Jahren nicht verwesenden Lackfarbe verblassen die eigenen Träume. Diese an sich langweilige kulturpessimistische Figur ist so alt wie die Photographie oder älter; sie haben vor mir wortreicher und geistesschärfer andere analysiert, und Verlage wie Merve oder Suhrkamp bestreiten mit Variationen derselben einen beträchtlichen Teil ihres Katalogs.

Aber am eigenen Ätherleib spürt man dieses unfreiwillige Kontinuum doch am besten. Die Bilder kommen einen holen, wenn man sich nicht in Acht nimmt vor Ihnen. Sie schliessen ganz von selbst die Grenze zwischen mir hier und Ihnen dort, zwischen Erfahrungsrealität und Bildrealität. Es wird gern übersehen, dass der Mensch ein Augenwesen ist, und mein Augensinn macht mich so anfällig für die Wirkstoffe des Bildes.

Viel leichter kann ich einfach nicht glauben oder einfach gar nicht hören, was man mir erzählt. Aber die neuralen Bilder, die ich aus Ab­bild­ern aufnehme—von Photo­graphi­en etwa, oder noch wirk­mächtiger von Filmen und Filmspielen—trennen sich ungleich schwerer ab von jenen neuralen Bildern, die ich selbst er-lebt habe. Warum auch; es ist dasselbe, und es ist in besonderem Maße dasselbe für die uralten Schaltkreise, die mit nur zweimal Umsteigen in die Sehrinde führen und auf dem Weg dorthin bereits in die vorbewussten Vorratskeller des fühlenden Hirns hinabdiffundiert sind.

Das Hören oder Lesen eines noch so trivialen und sicher in vielerlei Hinsicht fahrlässigen Textes wie Angel of Death der Krawallbrüder von Slayer, so die These, bringt insgesamt deutlich weniger Schaden und Verkommenheit in die Welt als der sepiafarbene Auschwitz-Kitsch von Stephen Spielberg. Und, so der Komplementärteil der These, traumatisiert worden (d.h., in seiner eigenen Phantasie vieler Freiheitsgrade gewaltsam beraubt worden) ist von einem noch so detail– und blutreich, meinethalben: pervers (falls Ihnen diese Vokabel weiterhilft; mir nicht) erdachten Roman, Text, Satz sicher niemand. Verstört: ja; seiner Vor­stellungen, seiner Ausmalungen, und damit seiner Souveränität beraubt: Nein.

Mit dem Vorsatz noch träumen zu wollen in die Bilder zu gehen heisst also zunehmend: Nicht mehr zu träumen. Wenn die Bilder zum Träumen also nicht mehr taugen, weil sie von einer Realität sich nicht mehr ab­setzen, dann verliert auch das Kino seinen Options­schein auf meine Träume.

Ob es nun die nächste Evolutionsstufe sein wird, lieber gar nicht mehr zu sehen, sei dahin­gestellt. Vorerst aber heisst die Antwort: Zurück zum Wort, paradoxer­weise. Die alte Schulhof– und Smalltalk-Frage Buch oder Film muss in dieser Allge­mein­heit und zunehmend radikaler mit Buch beantwortet werden, und die an sich jüngere Kulturtechnik des geschriebenen Worts ist es erstaunlicherweise, die uns hilft, den fast verlorenen Freiraum des selbstbestimmten Traums zu bewahren.

Abb.: Keine vorhanden.


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Thursday, May 21, 2009

Hebephrenie oder die Rückkopplungen einer noch jungen Technologie

Selbstreferenz. Eine Kamera, die ihr eigenes Abbild filmt, wenn Sie wissen, wovon ich rede. Manche Schizophrenie-Forscher würden vielleicht von fehlgeleiteten Efferenzkopien sprechen. — Alles eine große Theorie, vor allem aber ein großer Spaß.

Um selbigen voranzutreiben und um die Suchmaschinen der totalen Bibliothek mal mit etwas Rauschen neben all dem Hochqualitätssignal zu füllen, ist es unabdingbar, hier einmal recht wahllos die Suchbegriffe (mit allen Schreibfehlern! Auf dass sie noch mehr sogenannte Google-Hits produzieren mögen) aufzulisten, mittels derer Menschen aus Nah und Fern zu uns hier an die WALL OF TIME gefunden haben in den letzten Tagen.

Erklärte Favoriten der Redaktion sind natürlich “Autofahren bei hebephrener Schizophrenie” und “free-world-of-voyeur-deutschland”. Aber Lesen Sie selbst. Suchmaschinen-Roboter bitte hier entlang:

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Monday, May 18, 2009

Time traveler’s wisdom: A.P. Seelmann full-length interview



—von Jonas Obleser für walloftime.net

Kennen Sie das? Sie leben so vor sich hin und lassen die Zeit durch den Kamin und denken: Wie wäre es, wenn ich einfach noch mehr wissen würde? Noch mehr lesen vielleicht, oder mich neben meinem Brotberuf einmal ernsthaft mit dem Hof Rudolfs des Zweiten befassen – könnte dies das Leben ändern? Und überhaupt, ist es nicht das Credo unserer in Unsicherheit und mangelndem Selbstwert verhafteten Gesellschaft, dass Bildung den Schlüssel zu quasi allem anderen darstellt?

Höchste Zeit für Wall of Time, diese und andere Fragen mit dem quantitativen Sozialforscher, Kunstgeschichtler und passionerten Witzesammler A.P. Seelmann, auch gelesen als Autor des Feuilletons Der Umblätterer, zu klären.

Herr Seelmann, fragen Sie mich bitte im Gegenzug nicht sofort, warum; aber es erscheint mir seit langem sonnenklar, dass ich mit genau Ihnen über Bildung sprechen möchte. Spielen Sie mit?

Da spiele ich gern mit, schon allein deshalb, weil es mich brennend interessiert warum Sie genau mit mir über Bildung sprechen wollen. Aber zuerst würde ich gern wissen wollen, an welche Art von Bildung Sie denken?

Ich glaube, ich meine Bildung fast in diesem erstmal völlig abstossenden Dietrich Schwanitz-Sinne. Sie wissen schon: Was man gelesen haben muss, für Menschen, die eh überhaupt nicht lesen. Nun, halten Sie sich denn für gebildet?

Interessanter Einstieg, gerade weil Sie Bildung hier mit Büchern, also Gelesenem, verbinden. Arno Schmidt stellte ja mal dieses Rechenmodell über die Anzahl von Büchern auf, welche man in einem Leben lesen kann. Das sind nur ein paar Tausend Bände, viel mehr ist beim besten Willen nicht drin.

… wie der chronisch unterbeschäftigte Sänger Art Garfunkel beweisst, der seit 1968 akribisch jedes gelesene Buch notiert und diese Liste auch öffentlich hält; selbst er liegt bei entsprechend nur 1400 Büchern.

Für ein normales Leseleben, welches ja in der Masse sehr deutlich unter dieser Titelanzahl liegt, sollte man also eigentlich sehr genau auswählen was man liest. In Ecce Homo schreibt Nietzsche ebenfalls am Rande über die Anzahl von Büchern, welche man benötigt und lesen sollte und kommt zu einer deutlich geringeren Anzahl, einige hundert Titel. Sein Hauptargument ist allerdings, dass man sich nicht zu viele fremde Gedanken in den Kopf pflanzen sollte, um seine eigenen nicht zu verwässern. So ähnlich sah das auch Stefan George, nur noch restriktiver, er hielt wohl theoretisch 50 wohlüberlegte Bände für ein Leben ausreichend. Müsste man demnach nicht diese Art von Buchbildung messen können? Also einen Wert, der sich aus der Anzahl und Qualität des Gelesenen errechnen lässt. Dazu würde man natürlich eine Bewertung von Titeln benötigen, also jemanden, der auf einer Skala den Wert eines Buches festlegt. Diese Skala sollte dann sicher von minus bis plus gehen, denn dann würde man vielleicht nach der Lektüre von Dan Browns Da Vinci Code sogar seinen Buchbildungswert verringern. Sie werden entschuldigen, dass ich hier etwas abgeschweift bin, aber wäre es nicht wunderbar wenn ich auf Ihre Frage einfach mit einer Zahl antworten könnte?

Doch, das wäre wunderbar, und spiegelt genau mein Ansinnen wider, Herr Seelmann: Mit Ihnen über Bildung, Lesen, und letztlich Wissen sprechen zu wollen, speist sich nämlich aus Ihrem Doppelleben als Tätiger in der quantitativen Sozialforschung – korrigieren Sie mich, aber im Brotberuf finden Sie zum Beispiel heraus, warum Menschen welche Druckerpatronen schätzen, oder warum sie wohl die eine der anderen, im Grunde völlig identischen Digitalkamera vorziehen – und als staff writer mit den augenscheinlichen Spezialgebieten HP Lovecraft, Thrash Metal und Kunstgeschichte bei den Meta-Feuilletonisten von Umblaetterer.de. Nun, wie auch immer Ihre Formel zum Errechnen Ihrer oder meiner Bildung lauten wird, der Ihrige Kennwert würde auf der Normskala besorgniserregend hoch liegen, so glaube ich. Und da fragt man sich: Wie entscheiden Sie, was Sie lesen? Was Sie schauen? Was Sie hören? Wie entsteht, in diesem anscheinend uferlosen See des kulturgeschichtlichen Expertentums, eine Auswahl? Und, haben Sie für unsere hochmotivierten Leser einige zeit-ökonomische Hinweise?

Vielen Dank für die Blumen, ich fühle mich geehrt, wohl wissend, dass Sie das nicht nötig haben. Ich kann Sie aber beruhigen oder vielleicht auch enttäuschen, ich habe jedenfalls keinen Masterplan beim Lesen, Schauen und Hören und ich hungere auch keinem bürgerlichen Bildungsideal hinterher. Ich bin nur übermäßig neugierig und schlage schnell meine Zähne irgendwo ein und bin dann geradezu exzessiv, jedenfalls solange bis ich einigermaßen meinen „Blutdurst“ gestillt habe. Ich kenne mich auch ehrlicherweise mit nichts so richtig befriedigend aus, ich bin Generalist und verfüge über ein, wohl relativ breites, Halbwissen. Das kommt wohl daher, dass ich tatsächlich sehr viel lese und zwar immer und überall, auch beim Zähneputzen.

Beim Zähneputzen! Ist das nicht sehr un-zen! Ich erinnere mich an den toten Janwillem van de Wetering, dem im Zen-Schlager „Der leere Spiegel“ von seinem Meister exakt solches untersagt wurde. Erzählen Sie sofort!

Ja, das Zähneputzen sollte man ja mindestens drei Minuten tun und je nach Schriftsatz kann man in dieser Zeit ungefähr ein bis zwei Buchseiten konsumieren. Ich brauche aber für die Dentalpflege etwas mehr Zeit, weil ich vor dem Bürsten noch die Zahnzwischenräume reinige, mittlerweile nicht mehr mit Zahnseide, dazu braucht man ja zwei Hände und kann kein Buch halten, sondern mit diesen kleinen borstigen Reinigungsstäbchen, und schaffe also in dieser Zeit einen längeren Artikel oder einige Buchseiten. Ich habe auch immer etwas zu lesen einstecken, wenn ich unterwegs bin, meistens ein Buch. Bücher haben ja auch einen ästhetischen Wert und ich kaufe gern schöne Ausgaben, aber ich brauche auch immer kleinformatige Paperbacks, die ich gut in der Tasche tragen kann, denn ich verspüre eine ungeheure Unruhe, wenn ich zehn Minuten U-Bahn fahre oder irgendwo warten muss und ich habe kein Lesematerial bei mir.

Die Unruhe, um nicht zu sagen: die Langeweile als Bildungsantrieb — ein altes Motiv. Erst das Fressen, dann aber bald das Lesen, bitte.

Vielleicht! Eine ähnliche Unruhe verspüre ich übrigens auch, wenn ich irgendetwas nicht weiß, von dem ich der Meinung bin, dass ich es wissen sollte, das kann im Gespräch sein, im Buchladen oder im Museum und es ist die pure Begeisterung für alles Mögliche, die mich dann treibt entsprechende Lücken zu schließen. Neulich erzählte mir ein Bekannter von Arthur Cravan – Dada-Künstler, Boxer und Lebemann –, von dem ich noch nie etwas gehört hatte und was er da von Cravan erzählte klang so spannend, dass ich mich sofort in einem Zustand der kognitiven Dissonanz befand, welche ich nur durch Lektüre auflösen konnte. Cravan verschwand irgendwann um 1920 spurlos und nach einer von vielen Theorien soll er vielleicht sogar mit B. Traven identisch sein, über den man ja nicht viel weiß, und „Das Totenschiff“, welches verblüffend einer Episode aus Cravans Leben ähnelt, erschien nur wenige Jahre nach Cravans Verschwinden. Solche Geschichten um Randfiguren aus der Vergangenheit reizen mich viel mehr als Gegenwartshits die in aller Munde sind.

Und so gelangen sie immer tiefer in die Kunstgeschichte hinein, zum Beispiel, wie in einen Stollen, und nehmen dort auch im Zweifelsfall den etwas schlechter ausgeleuchteten Pfad?

In der Kunstgeschichte geht es mir ähnlich, ja. Der misanthropische Eigenbrötler Jacopo da Pontormo, welcher sich nach Vasari in seinem Haus ein Turmzimmer schuf, welches nur über eine Leiter zugänglich war, welche er oft einzog, um nicht gestört zu werden, ist für mich reizvoller als der „göttliche“ Genius Michelangelo, obwohl mich natürlich die Schönheit seiner Kunst ebenso bewegt, wie jeden Menschen, der nicht aus Holz ist. Oder nehmen wir die hochmanieristische Kunst am Hofe Rudolfs II, welche kunsthistorisch maximal in der zweiten Liga rangiert, aber ich finde diese Überkünstelung ungeheuer reizvoll, vielleicht vor allem deshalb, weil das Umfeld in dem sie entstand so spannend ist. Allein der exzentrische Imperator, der die Regierungsgeschäfte nahezu vollkommen vernachlässigte, während er das Staatssäckel für seine kulturelle Extravaganz leerte und neben Künstlern (die wirklich großen der Epoche bekam er allerdings nicht nach Prag) auch Alchimisten, Astrologen und allerlei Scharlatane anzog, welche in und um die Prager Burg kampierten.

Ich habe davon ja noch gar nie gehört. Denken Sie an jemanden bestimmten?

Ich denke hier an Joseph Heintz, Hans Rottenhammer und Hans von Aachen, der aber eigentlich aus Köln stammt, und den wichtigsten sogenannten Dürer-Nachahmer Hans Hoffmann. Als prominentes Beispiel kennt man hier natürlich Giuseppe Arcim­boldo, wegen seiner Gemüse­portraits, den sogenan­nten Com­posite Heads. Arcimboldo war aber auch ein begnadeter Zeichner. Das ist nicht verwunderlich, denn er stammt aus Mailand und war mit Bernadino Luini befreundet, einem Leonardo-Schüler. Aber weil wir gerade so viel über Bücher sprechen, Arcimboldos Portraits aus Gemüse sind ja hinreichend bekannt, aber es gibt auch eines, welches bezeichnenderweise „Der Bibliothekar“ genannt wird. Es ist ein Composite Head aus Büchern. Sein schönstes Portrait ist es aber nicht gerade.

Ja, es sieht wirklich entsetzlich aus.

Hierher passt allerdings auch ganz wunderbar der Episodenroman „Nachts unter der steinernen Brücke“ von Leo Perutz, welcher im Prag dieser Zeit spielt und neben vielen anderen Handlungssträngen auch Rudolf porträtiert. Diese wilde Kette von Assoziationen gibt vielleicht einen kleinen Eindruck wie ich auswähle, nämlich gar nicht, oder eher unterbewusst, ich treibe so dahin und der Rest ergibt sich; eine Art Schneeballsystem. Aber ob man viel oder wenig liest, Leo Perutz, welchen ich für mich auch erst auf Empfehlung eines Freundes entdeckte, kann ich nur wärmstens empfehlen, den muss man lesen, am besten komplett.

Ich denke, wenn Stefan Zweig das noch erlebt hätte, hätte er bei Insel noch eine seiner „Stern­stunden der Mensch­heit“ dazu ver­öffent­licht. Einen eben­solch­en Effekt wie Slayer auf die Metal-Musik hatte ­Cara­vaggio auf die Maler­ei, sage ich jetzt mal in aller Ver­mes­sen­heit.

Da war es wieder, das im Zweifelsfalle Unersättliche. Macht Wissen einsam?

Ich würde jedenfalls davon ausgehen, dass mit dem Anstieg der Wissenskurve die Anzahl der Leute abnimmt die ebensoviel wissen und sich dadurch, wenn man so will, die Anzahl „Ebenbürtiger“ reduziert und damit tendenziell eine Vereinsamung stattfinden könnte.

Ihre Arbeit, sofern Sie geneigt und befugt sind, darüber kurz zu sprechen, schließt ja – wir erwähnten es bereits – den Austausch mit Laien als Experten ein. Sie versuchen, für ihre Klienten (Hersteller diverser Konsumgüter) etwas über die Herangehensweise, Entscheidungswege, also letztlich auch: das Wissen der Konsumenten zu erfahren. Meinen Sie, so ein Experten-Roundtable wäre auch für im eher Schöngeistigen beheimatete Produzenten wie den offensichtlich nach seinem Weg suchenden Suhrkamp-Verlag hilfreich?

In unserem Institut beschäftigen wir uns weniger mit Konsumgütern, da wir überwiegend im so genannten B2B-Bereich arbeiten und unsere „Feldarbeiter“ dann zumeist mit tatsächlichen Experten zu tun haben, zumindest sollte das im Idealfall so sein. Das unterscheidet sich allerdings grundsätzlich nur wenig von reiner Konsumentenforschung. Wissen ist aber nur ein geringer Teil der hier erforscht wird, überwiegend geht es um die Messung von Verhalten (Was? Wann? Wie viel?) und Einstellungen (Warum?). Aber schlussendlich geht es um schnöden Mammon, denn unsere Kunden wollen basierend auf unseren Ergebnissen Strategien entwickeln, mit denen sie mehr von ihren Produkten an den Mann bringen können. Und damit unterscheiden sie sich natürlich nicht so sehr von einem Verlagshaus wie z.B. Suhrkamp. So gesehen wäre der Einsatz von Methoden der empirischen Sozialforschung, in welcher Form auch immer, sehr nützlich bei der Suche nach dem oder einem Weg. Aber meinen Sie denn nicht, dass der Suhrkamp Verlag sowieso in irgendeiner Form Marktanalyse betreibt?

Ich weiss nicht. Ich will es mir nicht recht wünschen wollen. Herr Seelmann, zum Abschluss müssen wir uns unbedingt noch über die von uns beiden hochgeschätzte Musikgruppe Slayer austauschen. Ich erinnere mich lebhaft, wie Sie mir erzählten, einen Kneipendisput über den genauen Namen der Slayer-Plattenfirma einmal mittels dieses englischen Textnachrichten-Anbieters gelöst zu haben, der auf beliebige, enzyklopädische Fragen gegen viel Geld pro Minute die Antwort prompt zusendet. Und ich erinnere mich, dass wir beide sodann Ihren Disputanten anrufen mussten, um uns zu erinnern, wie dieser Dienst-Anbieter noch einmal genau hiesse. Ein schönes Beispiel, wie eins zum anderen führt in der Fraktalität des Unwissens. Slayer! Welche Rolle nimmt das Werk dieser eher finster aufspielenden Gruppe in dem von Ihnen bis hierher aufgespannten Kosmos aus sehr solidem Halbwissen und Kunstbeflissenheit ein?

Ja, mir wollte jemand nicht glauben, dass die Schallplatte „Reign in Blood“ auf Def Jam Recordings herausgekommen ist, das Plattenlabel welches Rick Rubin gegründet hatte und das sich eher auf Hip-Hop spezialisierte. Aber die letzten vier Johnny Cash Alben kamen ja auch auf American Recordings heraus, einem Ableger oder Nachfolger oder so von Def Jam, so genau weiß ich das auch nicht, bitte bei Wikipedia nachlesen. Die „Reign in Blood“ ist jedenfalls eines der wenigen Alben, das man immer und immer wieder von vorn bis hinten hören kann, also „Piece by Piece“ wenn man so will, hehe. Alles ist wie aus einem Guss, zeitlos schön und hat eingeschlagen wie eine Bombe, als es herauskam. Ich hörte das erste Stück des Albums in der Sendung „Heavy Metal Special“ auf NDR 2 und sie spielten nicht den Einstiegshit „Angel of Death“ – …

„Infamous! Butcher! Immense Decay!“

… Genau! – sondern das erste Stück der B-Seite, „Criminally Insane“. Vielleicht hatten die einfach die Platte falsch herum aufgelegt; mich riss das Stück, vielleicht das seichteste des Albums, trotzdem vom sprichwörtlichen Hocker.

Ich denke, wenn Stefan Zweig das noch erlebt hätte, hätte er bei Insel noch eine seiner Sternstunden der Menschheit dazu veröffentlicht. Einen ebensolchen Effekt wie Slayer auf die Metal-Musik hatte Caravaggio auf die Malerei, sage ich jetzt mal in aller Vermessenheit. Und wie bei Caravaggio, der eine ganze Schar von Nachahmern fand, brauchte es ein paar Jahre bis wirklich jemand an sein Werk anschließen und es fortsetzen konnte. Das waren dann nicht die so genannten Caravaggisti, die seinen Stil nachahmten, sondern die Maler die darauf aufbauend nach einer Weile etwas Neues schaffen konnten, Velazquez, Rembrandt, Georges de la Tour. Bei Slayer waren das vielleicht Sepultura mit dem fünf Jahre nach der „Reign in Blood“ erschienenen Album „Arise“.

Herr Seelmann, das ist doch zum Thema Bildung eine ganz hervorragende Kaufempfehlung zum Ende dieses interessanten Gesprächs. Herzlichen Dank.


References

Barcinski, A., Gomes, S. (1999). Sepultura: Toda a História. São Paulo: Ed. 34

Brown, D. (2003). The Da Vinci Code. London: Bantham Books

Cravan,A. (1991). Boxer und Poet: Oder Die Seele im 20. Jahrhundert. Hamburg: Edition Nautilus

Da Costa Kaufmann, T. (1988). The School of Prague: Painting at the Court of Rudolf II. Chicago: University Of Chicago Press

King, K., Hannemann, J., Araya, T., Lombardo, D. (1987). Slayer: Reign In Blood. New York: Def Jam / Geffen / Warner Bros. Records

Kulturstiftung Ruhr Essen (1988). Prag um 1600 – Kunst und Kultur am Hofe Rudolf II. Freren: Luca.

Nietzsche, F. (2005). Ecce homo. Wie man wird, was man ist. München: Deutscher Taschenbuchverlag.

Paumgarten, N. (2008). [Art Garfunkel] The King of Reading. New Yorker Magazine January 28 Issue.

Perutz, L. (2002). Nachts unter der steinernen Brücke. München: Deutscher Taschenbuchverlag.

Reuter, S. (2000). Arno Schmidt und die Bücher – betrachtet aus der Per­spek­tive einer gestrich­enen Text­stelle der Fouqué-Bio­graphie. http://ste­phan­reuth­ner.de/­smibio7.htm

Richardson, M., Geary, R. (2005). Cravan: Mystery Man of the Twentieth Century. Milwaukie, Oregon: Dark Horse Comics

Schwanitz, D. (2002). Bildung. Alles was man wissen muss. München: Goldmann.

Schonauer, F. (2000). Stefan George. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch

Schürmann-Emanuely, A. (2000). Arthur Cravan – Die Niedertracht der Tafelrunde. Risse im Context (Magazin zur Alpenbegradigung) XXI: 5.

Traven, B. (1926). Das Totenschiff. Frankfurt/M.: Büchergilde Gutenberg

Vasari, G. (2004). Das Leben des Pontormo. Berlin: Klaus Wagenbach.

Van de Wetering, J. (1972). De lege spiegel. Ervaringen in een Japans Zenklooster. Rotterdam: Synthese Uitgeverij

Zweig, S. (1926). Sternstunden der Menschheit. Leipzig: Insel


A.P. Seelmann ist regelmäßig zu lesen auf Umblaetterer.de unter dem Kampfnamen Dique. Wir sprachen mit A.P. Seelmann im April und Mai 2009 in Leipzig und Hamburg.


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Friday, May 15, 2009

Announcement for the upcoming A.P. SEELMANN interview

for immediate release

Fellow time travelers, liebe Zeitmaurer,

Watch out for another full-length and in-depth interview here at the WALL OF TIME for the Time traveler’s wisdom series:

We recently had the pleasure and great honour to chat with Hamburg– and London-based long-time erraticist, well-reputed ecleticist, and social scientist A.P Seel­mann.

Seelmann is an honoury fellow of the German-lingo literary and fine arts house Der Umblätterer, where you can read Seelmann’s erudite and often plain funny endeavours (“Curb your Michelangelo”, “Auf dem Kopf ein Aushilfs-Timoschenko-Flechtwerk”, and the likes) under the battle name Dique.

Stay tuned for the 4-page full-text four-colour portable document format file as well as the complimentary hyper-text markup language version both being available in the tongue of Goethe, Goering and others (German, that is) here from Monday May 18th 0900 hours AM on.

Meanwhile, freel free to check out or previous interviews.


Dieser Beitrag ist auf Englisch, doch einiges an der Zeitmauer gibt es auch in der hervorragenden Kultur- und Verwaltungssprache Deutsch zu lesen — zum Beispiel das hier annoncierte Interview mit dem großen Bildungsforscher A.P. Seelmann.

Saturday, May 09, 2009

Geschieht es?


Jonas Obleser, 'RGB 29,24,21’, 240 × 200 px

Ist die Monochromie das erste oder das letzte Bild? Was geschieht mit der Zeit, wenn die Narration aus dem Bild verschwindet?

Das folgende ist ein Zitat aus Julia Friedrichs hervorragend geschriebener (und von Carmen Strzelecki sehr schön gesetzter) Dissertation, “Grau ohne Grund — Gerhard Richters Monochromien als Herausforderung der künstlerischen Avantgarde”, erschienen 2009 bei Strzelecki Books, Köln.

Wo noch Bewegung ist – ließe sich Lyotards Überlegung fortsetzen –, ist noch immer ein Vorher und Nachher, eine Entwicklung und kein Jetzt. Zugleich ist aber mit [Barnett] Newmans Tafeln, die zwar narrative Titel tragen, aber keine Szenen geben, die zwar Bilder sind, aber nichts darstellen, zugleich die Frage »Geschieht es?« gestellt. 143 Erhaben wären die Tafeln Newmans nach deser Deutung keineswegs deshalb, weil sie an dräuende Wolken oder Steinwüsten erinnerten, und auch nicht deshalb, weil sie den Betrachter durch ihre Monumentalität überwältigten, sondern gerade durch ihre Verweigerung der Abbildung und weil sie dennoch in der Zeit, im Jetzt, die konkrete Frage nach dem Seienden stellen. Geschieht es? Das Ereignis ist demnach nicht Moment einer Entwicklung oder einer zeitlich fortschreitenden Bewegung, sondern fällt aus der Zeit heraus.

Obwohl Lyotards Analyse einen ganz wichtigen Punkt erfasst – das Verhältnis von Zeit und Unzeit, von linearem, geschichtlichen Fortschreiten und plötzlichem Ereignis –, der gerade im Vergleich mit Gerhard Richters Konzeption, die in vieler Beziehung exakt das Gegenteil von Newmans vorstellt, noch genauer betrachtet werden muss, scheint sie doch zu abstrakt. Auch wenn Newmans »Vir heroicus sublimis« Lyotards Ausgangspunkt ist, schaut er sich das Gemälde gar nicht näher an. Die Frage »Geschieht es?« wird im Grunde von allen Kunstwerken aufgeworfen, die die Frage nach der eigenen Existenz stellen, also von der Konzeptkunst Lawrence Weiners oder On Kawaras ebenso wie vom Action Paiting oder vom abstrakten Expressionismus Jackson Pollocks oder Willem De Koonings.

143 Lyotard, F. (1984). Das Erhabene und die Avantgarde. Merkur 424:151–164



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Thursday, May 07, 2009

Fake beards (I)




Dieser Beitrag ist auf Englisch, doch einiges an der Zeitmauer gibt es auch in der hervorragenden Kultur- und Verwaltungssprache Deutsch zu lesen.

Tuesday, May 05, 2009

Es ist ein kurzer Weg in langer Zeit

Einsamer nie als im August: — Das ist ja von Gottfried Benn, dem Zauderer. Ich sollte mich hüten, ihn gleich auch noch zum einsamen Zauderer zu machen; er kann sich nicht wehren und ist ja schon sehr lange tot. Auch hätte er das Sich Wehren gänzlich abgelehnt möglicherweise, wie viele große Künstler, die genau wissen, dass das eitle Stellungbeziehen, und sei es dagegen, die wertvolle und in ihrem Wortsinne so wahre Indifferenz verrät. Benn jedenfalls schrieb dieses Gedicht im August 1940. So sind es die Worte selbst und der Zeit-Punkt ihres Entstehens, die in mir nachhallen.

Sommer 1940; wie der Text nahelegt, gar der August desselben. Da bangte meine Großmutter hoch– und höchstschwanger, die Nieder­kunft erwartend, dem entgegen, was da kommen möge. Mein Großvater stand sicher schon im Feld, auch wenn mir erste Bilder von einem Studienrat vor dem Ortsschild Belgrads erst aus dem Jahre 1941 vorliegen. Neunzehnhundertvierzig, der Sommer; da waren doch die Franzosen ein für allemal geschlagen, da war man sich mit Stalin doch einig. Nur die Bomber kamen weiterhin, trotzdem und immer heftiger. Und immer weniger waren die Menschen, und ganz sicher unter ihnen meine Großmutter, 23 Jahre jung, in der Lage, das Sportliche in den Angriffen zu sehen.

Meine Großmutter war ein ängstlicher Mensch. Angst ist ein Motor, ein einsamer noch dazu. Die Menschen dringen nicht mehr durch zu mir, wenn ich ängstlich bin. Der Bomber aber drang durch, damals längst noch nicht in den Südwesten, aber die Gerüchte und Geschichten eilten ihm voraus und ebneten ihm den Weg. Sicher auch den Weg an den Neckar, und in die Ohren meiner Großmutter, und von dort in ihr Gehirn, das damals noch tadellos und blitzgescheit funktionierte, 59 lange Jahre bevor ein sich langsam, aber todsicher verschliessendes Stück Blutleitung dies ändern, ihr erst die Worte, dann die Angst, dann die Einsamkeit, und zu guter letzt das Leben nehmen sollte.

Was passiert, wenn eine vielleicht einsame, sicher aber besorgte junge Schwangere in den Zirkus der Angst gerät? Wenn das Cortisol sich ausschüttet über ihr eigenes, und vor allem über das kleine in ihrem Bauch gedeihende Gehirn? Zu leicht vergesse ich, dass ein Gehirn stets in einem Bauch reift, ein schönes und wahres Bild. — Plötzlich also schreibe ich, von Benn kommend, dem Schöpfer des zaudernden Hirnvermessers Rönne, über die (sehr wörtlich zu nehmenden Hormon– und Botenstoff-)Schauer der Angst, wo ich doch nur an den August 1940 denken wollte und die nahenden Flugzeuge am Himmel.

“Früher habe ich gerne WALL OF TIME gelesen, bevor ein Wahnsinniger denen diese Luftkriegsliteratur zugeschippt hat”, mögen Sie jetzt entgegen. Ich verdenke es Ihnen keineswegs und stehe ebenso ratlos wie Sie vor der obsessiven Kraft des Tods von oben, vor meiner steten Rückkehr zu längst vergangenen Verbrechen, Schrecken, Absurditäten und Unerklärlichkeiten.

Jedoch, sie hallen nach, und vom Cortisol-Level einer jungen Frau bei Heilbronn an einem Abend im August 1940, während Benn auf der Terrasse der Stadthalle Hannover sich immer tiefer in sich selbst verkriecht und während Benjamin, immer weniger der Verzweiflung entgegensetzend, an den spanischen Grenze seine letzten Tage zählt, ist es ein unfasslich kurzer Weg zu mir, dem Sohn der Tochter. Es ist ein kurzer Weg in langer Zeit, und weil wir so langsam, wie diese Fortschritte sich vollziehen, gar nicht schauen können, verstehen wir nicht, wie alles zusammenhängt.

Es bleibt mir nur, auszuloten wie ein armseliger Hirnforscher mit seiner trüben reduktionistischen Grubenlampe, wie die verschütt liegenden Erze eines total umgekrempelten, pervertierten Daseins, vor fast zwei Generationen einmal, bis heute in mich hineinwirken, in meine kleinen Sorgen, meine Einsamkeit, und meine Sommer.


Apologies to our readers who prefer our English posts.