Monday, February 23, 2009

Willy Reichert oder der letzte Grund

—“Tell that smart-ass to get his adjectives straight before
I see a second version of this draft”

Stuttgart. Ihr unermüdlicher Reporter war für ein neues heim­zu­bring­endes Abenteuer in die mythen­um­rankte Landes­haupt­stadt­si­mu­la­tion im Süden des Reiches aufgebrochen. Mit der Trashfluglinie “Deutsche Flügel” tuckerten wir durch die Wolken mittenhinein in die schwäbische Waschküche. War es nicht Hergé oder ein anderer Schweizer, der einmal schrieb, der interessante Teil der Welt zeichne sich dadurch aus, dass man am Flughafen nicht durch die an die Fluggeräte geschobenen “Finger” aussteige sondern dass man noch freien Fußes über das Vorfeld oder zumindest zum Bus schreite? Diesem Kriterium folgend gehört Stuttgart ganz klar zum interessanten Teil der Welt. Es roch sofort nach Seife und Rasierwasser und Kraut und Teigwaren.

Die Uhren gehen anders in Stuttgart, und vielleicht ist es kein Zufall, dass sich Ernst Jünger bei seinen seltenen Besuchen beim Verleger Klett in Stuttgart und auch sonst, weit im oberschwäbischen Hinterland, hinter einer Zeitmauer wähnte: Am Eisenbahnhof des Flughafens jedenfalls wird die Zeit der sogenannten Schnellbahnen zwar in Minuten angezeigt, um Vitesse und Esprit zu suggerieren, sollte aber der Ehrlichkeit halber eher in Stunden oder wie in vermeintlich unzivilisierten Teilen des Globus in Tagen berichtet werden: “S3 nach Filderstadt in 79 Minuten”.

In der Schnellbahn Richtung Stadtmitte lernten wir die ebenso charmante wie ungestüm-matronale Islamistik– und Logistik-Student­in Pilo­mena (“Pippi”) Rotter kennen. Sie verkürzte und versüsste uns die Fahrt durch fast quasi noch selbst erlebte Räuberpistolen aus den Zeiten Hölderlins und Schellings, erwähnte einen legendären Imbiss, “Vegi Vodoo King”, den wir unbedingt aufsuchen müssten, weil dort schon Maximilian Herre und Rezzo Schlauch vor ihrem Weg in den Untergrund gespeist hätten, und sie bot sogar an, uns am nächsten Morgen eine Führung durch die vom Tausendsassa Stauffenberg in Kindertagen bewohnten Gemächer im Schloß zu organisieren.

Vielleicht steht Pilomena für alle Stuttgarter; bei all ihrer rauen Freundlichkeit verstand man sie nur schlecht; sie sprach ein gutturales Schwäbisch, alle Vokale fast liebevoll zu Diphtongen zerkauend. Sie trug schwere Winterstiefel, und eine eher im von Ralph Siegel oder Leslie Mandoki ersonnenen Moskau zu erwartende Bieberfellmütze. Darauf angesprochen erklärte uns Frau Rotter, dass alle Schwaben so herumliefen, und tatsächlich sass uns gegenüber ein an Klaus Kinski im Spaghetti-Schocker “Leichen pflastern seinen Weg” gemahnender Zausel in ebensolchem Zausel-Gewand. Meine Begleiterin und ich kamen uns in unseren noch in Ostdeutschland erworbenen Stan Smith Tennisschuhen und den feinen Halstüchern sehr deplatziert vor.

Heute morgen dann, nach langer, vergeblicher Suche nach der wohl längst eingerissenen Weissenhofsiedlung und nach kurzer Nacht in der feinen Herberge des Dreifarbenhauses, liefen wir durch den nieselnden Regen auf so appetitlich sonst nur in Zürich zu findenden Gehwegen und erwogen, die Rückreise in die andere große Verlagsstadt Leipzig vielleicht lieber zu Fuß als mit der scheppernden Airbus 319 zurückzulegen. Auch könne man vielleicht symbolhaft einige Reclam-Ausgaben Schillers und Hegels dabei in einer Art Prozession von West nach Ost überführen, schlug ich vor, als uns eine verwirrt wirkende Frau bar fast aller Zähne ansprach und nach dem nächsten Telefon fragte; sie habe sich ausgesperrt—soviel ich verstand.

Ich war überfordert, wollte auch die Einheimische nicht mit unbedachten Verweisen auf die bereits erfundene und in anderen Gauen etablierte Mobilfunktelefonie beleidigen und reichte ihr stattdessen, einer Eingebung folgend, den Zettel mit Frau Rotters Adresse. Meine Begleiterin und ich schauten uns an und entschieden fast wortlos auf sofortige Abreise. Wir erreichten gerade noch die Mittagsschnellbahn ins nahe Marbach am Neckar, und ich schreibe Ihnen nun bereits aus einem kleinen Internetcafé an der hessischen Landesgrenze.

Apologies to our readers who prefer our English posts.

Friday, February 20, 2009

The fire in which we burn

«What will become of you and me
(This is the school in which we learn...)
Besides the photo and the memory?
(...that time is the fire in which we burn.)»

—Delmore Schwartz


Dieser Beitrag ist auf Englisch, doch einiges an der Zeitmauer gibt es auch in der hervorragenden Kultur- und Verwaltungssprache Deutsch zu lesen.

Tuesday, February 17, 2009

Lord, give me grace, and dancing feet, and the power to impress.

Irgendetwas muss doch auch richtig gelaufen sein.
Irgendetwas muss doch gelungen sein, wenn
nur zwei Tage nach dem (dieses Jahr
auch wieder besonders unerquicklichen) Jahrestag
des Dresdner Feuerregens eine ausgerechnet englische
Band mit einem ausgerechnet auch noch
nigerianisch-stämmigen Sänger ausgerechnet
den Alten Schlachthof, ganz nach Kurt
Vonneguts Slaughterhouse-Five—nehmen denn
die Allegorien gar kein Ende—, in eben jenem
Dresden bespielt und über tausend Menschen,

vielleicht etwa so viele wie damals vergeblich
Zuflucht im Hauptbahnhof suchten, sich und einander
im Schallsturm wiegen; froh sind; die Arme unwillkürlich
nach oben reissen müssen und schreien vor
flüchtigem Glück ob der Energie, die da von den
drei (eher gemütlich-rotgesichtigen Oktoberfestbesuchern
als einer Lancaster-Besatzung ähnelnden)
Ton– und Lichtmännern übertragen und verstärkt wird;
und wenn dann auch noch der frohe junge
Engländer die Dresdner ganz ohne Hintergedanken

auffordert, zum ausgerechnet “Ares” betitelten
letzten Stück doch bitte das Dach des Hauses
abheben zu lassen (statt es von oben mit dem mühsam
aus Norfolk herbeigeflogenen Sprenggut einstürzen
zu lassen
, denkt die Vernetzungs– und Historienmaschine
in meinem Kopf sofort mit) und alle, aber wirklich alle für
drei Minuten dann auch nichts anderes mehr im
Schilde führen, dann muss doch
etwas richtig gelaufen sein.

Apologies to our readers who prefer our English posts.

Sunday, February 15, 2009

Das Vergnügen, die Empörung singen.

“Weisst Du, vor hundert Jahren, vor: hundert!, hat Marinetti sein futuristisches Manifest hinausgeschleudert. Das habe ich neulich gelesen.” — “Marinetti war doch ein Faschist.” — “Das ist doch nur kennzeichnend, dass er später dann eben daran geglaubt hat; Er dachte, Mussolini überlässt den Künstlern die Macht; war das Benn, der ja auch kurz darauf reingefallen ist in seiner Eitelkeit, der das als Artokratie bezeichnet hat? Nun ja.” — “Und, macht es Dich traurig, dass es schon hundert Jahre alt ist, das Manifest?” — “Ich glaube, Du machst Dich lustig. Aber: Ja, es macht mich traurig. Wo ist unsere Wut? Wo ist dieser Schaum vor dem Mund hin, der die schönsten Blasen trug? Wo ist diese Wut hin? Der Aufbruch.” — “Zweitausend Euro bekommt ein Wissenschaftler heute, wie soll man da wütend sein?” — “Ja, vielleicht ist das das Problem. Aber ich glaube, es ist eher ein Symptom. Kein Druck mehr.” —

“Noch ist es doch nicht zu spät. Ich will mich auch nicht lustig machen, ich spüre ja auch diese Trägheit, diese Dumpfheit. Wir könnten doch neu aufbrechen.” — “2009, das Jahr in dem wir alles hinter uns liessen…Ich weiss nicht. Weisst Du noch, 2004, also: neulich erst. Da waren wir beide noch so voller Bilder, und voller magischer Träume, und voller Pläne. Und jetzt, in diesem neuen Jahr, hundert neue Jahre seit Marinettis durchbrochenen Lampen, elektrischen Herzen, dem Lärm der Straße, sitzen und warten wir matt und dumpf und hirntot; so tot am Leben wie es heute nichtmal mehr die umsorgten und bespaßten Zoobären sind.” — “Kannst Du schnell dranbleiben, ich habe einen Anruf des Vermieters gerade.” — “Ja – ein anderes Mal dann. Wir haben heute auch Karten fürs Theater. Ich verabscheue das Theater. Ich will das alles nicht.” — “Sei nicht so – traurig. Freitag dann?” — “Am Freitag sind es dann genau hundert Jahre.” — “Elektrische Herzen!” — “Siehst Du, Du machst Dich doch lustig.”


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Sunday, February 08, 2009

On the Eave of Wall of Time’s second year of tenure:

Liebe Zeitmaurer, ich hoffe Sie schätzen ebenso wie wir hier die anmutigen Kapitälchen der Mrs Eaves, wie sie seit ganz neuem unser Ladenschild hier oben zieren.

Der Februar ist ein schwieriger Monat; vielleicht nicht der grausamste, wie es Eliot über den April in die poetische Ewigkeit nagelte, aber ein seltsamer zumal. Vor einem Jahr kehrte die Wall of Time wieder, Anfang Februar des Jahres 2008; sie ändert seitdem fast täglich nicht nur Ihr Antlitz, sondern auch—falls es so etwas gibt—ihre Bestimmung, ihr Wesen, ihren Zweck. Derzeit, wie Ihnen als treuen Lesern nicht entgangen sein dürfte, mäandern wir wieder nach Herzenslust durch die Eschatologie, den magischen Realismus, die Sprachen Englisch und Deutsch sowie alle Mischformen der beiden. Und wir glauben immer noch sehr fest an die bessere Welt.

Wir glauben daran, dass es irgendwo eine Welt gibt, in der Bon Scott auf den Back in Black-Mastertapes singt; in der alle Menschen lustig-unheimliche Affenmasken zu körperschmeichelnden Anzügen tragen, wie es uns der Berliner Stadtaffe derzeit nahelegt; in der Wissenschaft und Wahnsinn, Leid und Humor, Aeropitura und Anti-AKW-Bewegung ein freundlicheres Miteinander pflegen; in der der lächerliche Dualismus von Wort und Bild überwunden sein wird.

Ein subtil erneuertes Ladenschild aus den Kapitälchen der Mrs Eaves, flankiert von einer grotesken Akzidenz, ist da ganz klar—schon wieder—ein Anfang.



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Thursday, February 05, 2009

Inverse effectiveness

—“Of Conrad's novels, Lord Jim and Nostromo continue to be widely read, as set texts and for pleasure.”

Great things will come to those who wait, I once overheard a friend say. My English is very bad, but this saying is somewhat true. In 2004, I was offered the privilege and the pleasure to visit a small Paraguayan enclave in Eastern Germany, on a strip of land mostly inhabited by—confusingly—the people of the Sorbes.

Amongst them, a small but thriving community of South American pilgrims has survived. They had arrived here in Saxonia in the 1890s, hoping to find peace from economic hardship and political instability back home. Today, very few families have survived without mixing with the Sorbian and German natives. I personally had first heard about the village of Weisswasser (engl. white water) in my southern German hometown when the community had decided to donate a seasoned firefighter vehicle to this Eastern German community some time after 1989.

Now, in 2003 or so, I learned about the Paraguayan enclave outside Weisswasser through the befriended Peruvian Shaman Cristiano Gran Sonq and the Polish poet and composer Dawid Desantowiec. Early in 2004, just after my PhD defense, Gran Sonq called me and invited me to join them on their visit to the enigmatic Paraguayan village in the Lausitz area. I distinctly remember us driving the endless Kohlian highways in my wrecked Ford Focus, running low on fuel, passing by Nuremberg, where we enjoyed Nümberga Wüschtla, and Bayreuth, whereupon Desantowiec rejoiced in cursing on Wagner and his antisemitic polemics. Meanwhile, Gran Sonq and I enjoyed the water pipe that my then-girlfriend had refilled, kindly enough.

When we finally hit the Sorbian soil, the atmosphere got tranquil within as well as around the car. Gran Sonq and Desantowiec had been here before, I reckoned, but it turned out to be obviously wrong. We passed Weisswasser, and the two of them pretended to know their way round, yet made me ask a German native for “the Paraguayans”. The German—or Sorbian?—native’s face was erased of any hospitality immediately. “Turn left after the cemetry.“ And, after a short fermate, ”take them all with you, if possible.” I frowned, puzzled. I looked at my passengers in the rear view mirror. Gran Sonq and Desantowiec looked back at me, innocently yet knowingly, then further delighted themselves with the water pipe. “Ours like the stars”, Desantowiec murmured in his fake US English. This all really freaked me out, you know.

I have to admit that ultimately I never made it to the Paraguayan enclave itself. I panicked instead. I kindly asked the esteemed Shaman and his Polish friend to leave me alone for a second. They waited outside the car and had a coffee or something at the local café (“Kaffeehaus Käthe”), while I—totally flustered—phoned my only friend in Berlin and asked her for a night’s stay.

Since then I’ve seen neither Cristiano Gran Sonq nor Dawid Desantowiec again. I understand that Gran Sonq now runs a spiritual center near the Polish border, where Gran Sonq’s Arian wife also plans to establish a very expensive private liberal arts and film college. Desantowiec was recently reported by a friend to run a premium-membership facebook group on 19th century transgender composers, which I doubt, as there are no premium memberships on facebook.

The funny thing is that this whole story and me remembering it is prompted by a book I found this morning. Gran Sonq had forgotten it on my Ford’s back seat back in 2004, and I since have read it many times with tremendous joy. It is Nikolai Ostrovskiy’s stalinist classic Wie der Stahl gehärtet wurde (Как закалялась сталь), in a beautifully-typeset GDR edition from the late 1970s.

Dieser Beitrag ist auf Englisch, doch einiges an der Zeitmauer gibt es auch in der hervorragenden Kultur- und Verwaltungssprache Deutsch zu lesen.

Tuesday, February 03, 2009

Am Tag nach Maria Lichtmess

—“The Bonanza was at a slight downward angle and banked to the right when it struck the ground at around 170 miles per hour (270 km/h). The plane tumbled and skidded another 570 feet (170 m) across the frozen landscape before the crumpled ball of wreckage piled against a wire fence at the edge of the property.”

—Director Kenneth Anger turned 32 on February 3, 1959

Vor langer, langer Zeit —Ich weiss es noch genau—musste ich immer unwillkürlich lächeln bei dieser Musik. Und ich wusste, wenn ich nur einmal meine Chance bekäme, dann würde ich die Leute zum Tanzen bringen, und vielleicht wären sie dann glücklich, nur eine Weile.

Aber der Februar fröstelte mich, mit jeder Zeitung die ich austrug; Schlechte Neuigkeiten auf den Haustreppen, ich konnte keinen Schritt vorwärts mehr. Ich weiss nicht mehr, ob ich geweint habe, als ich von seiner verwitweten Braut las, aber irgendwas hat mich tief berührt am Tag, als die Musik starb.

Tschüss, also, Fräulein American Pie. Ich fuhr meinen VW zum Stausee, aber der war ausgetrocknet; die guten alten Jungs tranken Whisky und Klare, sangen “We’re all gonna die, but we don’t know how, and we don’t know when” von Scout Niblett.

Hast Du das Buch der Liebe geschrieben? Und glaubst Du an den Gott da oben, wenn es doch so in der Bibel steht? Sag mal, glaubst Du an Rock’n’Roll? Kann Musik Deine sterbliche Seele retten?

Und, könntest Du mir beibringen, schön langsam und eng zu tanzen? Ich weiss, Du liebst ihn, denn ich sah Euch tanzen in der Sporthalle; Ihr zogt beide Eure Schuhe aus. Junge, Ich steh echt auf R&B. Ich war damals ein einsamer Testosteron-Teenie, mit rosiger Haut und einem VW Kombi, aber ich wusste, das Glück war vollends vorbei am Tag, als die Musik starb.

Schließlich traf ich ein Mädchen, die mir den Blues sang. Ich fragte Sie nach ein paar guten Neuigkeiten, aber sie lächelte nur und drehte sich fort. Also ging ich runter zum heiligen Laden, wo ich die Musik Jahre zuvor gehört hatte, aber der Mann im Laden sagte nur: Keine Musik heute.

In den Straßen schrien die Kinder, Liebende heulten herum, und die Dichter träumten. Aber kein Wort wurde gesprochen, die Glocken der Kirchen waren alle kaputt, oder an der Front. Und just die drei Männer, die ich am meisten bewundere, der Vater, sein Sohn und der heilige Geist, die schnappten sich den letzten Zug Richtung Küste, am Tag, als die Musik starb.

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