Wednesday, March 18, 2009

Wo die Kamerafahrten ein Ende gefunden haben

Ich wohne ja weit weg. Ich weiss nicht, ob das kleine Schicksal nun mich gezwungen oder die Zwänge mein Schicksal gebogen haben, aber ich sitze auf dem Bahnhof des mit den anmutigen und frohen Lettern Adrian Frutigers verzierten Pariser Flughafens. Wieso hier, fragen Sie. Wieso hier, frage ich mich selbst.

Das kam so: Ich beschreibe eine elliptische Fahrt, wie die Kamera des Michael Ballhaus, die um die Mutter Küster auf ihrer Fahrt zum Himmel kreiste. Meine Kreise werden sich konzentrisch verengen in den nächsten Tagen. In der Asepsis, die der deutsche Osten darstellt, war ich heute Morgen zunächst in eine etwas verwohnte Embraer-Maschine der Air France gestiegen. Zwei der jungen Männer meiner Reisegemeinschaft verdächtigte ich—wofür ich mich zwar entschuldigen, aber es nicht ungeschehen machen kann—umgehend des Bösen in ihrem Schilde; dies wohl eine unheilige Kondensation aus ganz normalem Post-9/11-Wahnsinn und dem völlig arglosen Blick des so unheilvollen Tim, leicht aufwärts zu mir blickend, abwartend, auf dem aktuellen Wochenmagazin SPIEGEL, das ich entgegen meines Wollens hatte kaufen müssen.

Wieso eigentlich elliptisch, wieso Kamera, wieso Fahrt? Nach dem gewissermaßen zunächst auswärts, scheinbar fort vom Ziel strebenden Reisen und Arbeiten über Paris, Lyon und Grenoble der Linksschwenk hinein; eindrehend, um durch die Mutter der Beschaulichkeit, der Schweiz, hindurch, auf Wegen aus Eisen, nach Deutschland, durch die Hintertür, und vollends hinauf nach Stuttgart zu gelangen und das eigentliche Ziel in den Blick zu nehmen: jene schwäbische Heimat, deren unaussprechlichen Namen bisher doch nur so wenige zu buchstabieren wussten, und dessen Zweckarchitektur sowie seine bleichen, verzerrten Gesichter in den letzten sieben Tagen so rat– und rastlos zerfragt und zerfilmt worden waren.

Vielleicht werde ich zunächst in der größeren, weniger leicht zu erschütternden Metropole verharren, bevor am nächsten Tag die Fahrt hinein in die kleine Stadt mit der großen Trauer möglich sein wird. Dann wieder die Heimat mit den eigenen Augen schauen, und von mir aus auch mit dem von (Frankreich!) Saint-Exupéry besungenen Organ. Aber auf alle Fälle nicht mehr durch die Bildwurst– und Fleischmaschine der Übertragungswagen, an deren Auswurf wir wider besseres Wissen und Gewissen gehangen waren in den ersten Stunden und Tagen. Es war nicht weit gewesen zu Baudrillard und einem in sich richtigen, emotional aber unerträglichen Baudrillardschen Schluss, Winnenden did not take place.

Ich verbot mir, solch Französisch-Postmodernes, einst Schickes zu Ende zu denken im Angesicht des Unsprechlichen. Um aber über diese medialen Rückkopplungen, die unbestreitbar die feinen Sinneszellen in allen Organen zerstören können, hinwegzugelangen, muss selbst hinfahren, wer verstehen will. Verstehen heisst in diesem Falle nicht, aus dem “Warum?” ein rohes “Deshalb” zu meisseln. Verstehen erfordert zuerst, die Ohnmacht anzuerkennen. Er sei der Gott der Traurigkeit, hat der nicht minder unheilvolle Dylan Klebold nämlich geschrieben, in einer Sprache die ebenso krank wie schön war.

Hinein also, dorthin, wo mittlerweile die Kamerafahrten ein Ende gefunden haben und wo die Bushaltestelle wieder den Schulbussen und Schulkindern gehört. Die Traurigkeit werden die Korrespondenten und auch wir Zuschauer wohl dort gelassen haben, denn ihr Widerhall will nicht verstummen in mir. Aufschub, also nur, im satten Violett des TGV. Auf ins Reich der Traurigkeit.


Apologies to our readers who prefer our English posts.

1 comment:

  1. Interessiert die Realität noch jemanden?

    Warum eigentlich diese Medienkritik nach Winnenden?
    Wenn es etwas zu kritisieren gibt, dann vielleicht dass ZU WENIG berichtet wurde.
    Und ZU EINSPURIG, aber doch nicht ZU VIEL.

    Der Server von Spiegel Online brach fast zusammen als die Nachricht rausging.
    Wer wollte da gleich als Erster die Details erfahren? Die unsensiblen Journalisten? Oder doch die Masse der zukünftigen Medienkritiker?

    "Die Journalisten sollten die Leute in Ruhe trauern lassen." (Mantra) Vor dem Tatort? Das ist doch bereits Voyeurismus, vor den Tatort zu ziehen.

    Voyeure haben Voyeure gefilmt, das war Winnenden.

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