—Sam Lowry, in Terry Gilliam’s “Brazil”
Ich fühle mich ja wirklich manchmal etwas schlecht, wenn ich ein Leben als Täuschung aufführe. Wenn ich von Städten schreibe, die es zwar gibt, die aber in Wirklichkeit ganz anders aussehen. Wenn ich Personen treffe, die nicht mehr leben und wenn, dann schon gar nicht dort auftauchen würden, wo die Spürnasen von WALL OF TIME sie wieder gesehen haben wollen. Aber es gibt eben kein richtiges Leben im Gefälschten, und so bleibt mir nichts übrig, als Ihnen diese kleinen Spielchen aufzuführen. Und es ist ja am Ende des Tages auch alles wahr, was ich zu berichten weiß. Aber ich gestehe zu, dass es alles sehr ermüdend ist mit dieser Postmoderne.
Und dann lese ich von Brasilien. Nicht jenem Brasilien, dem Oskar Niermeyer, als die Moderne noch ohne Vorsilbe auskam, einen gigantischen Traum in Stein goß. Sondern jenem Brasilien in Lauffen am Neckar. Ich lüge nicht.
Ich wollte doch nur etwas mehr wissen über den Friedrich Hölderlin einmal mehr, der am Fluß Neckar sein Leben gelebt hat, in Lauffen und Nürtingen und Tübingen. Und ich höre: Da ist nichts mehr zu sehen; alles der alliierten luftgestützten Stadtplanung zum Opfer gefallen.
Bei Lauffen, so stellt sich heraus, macht dieser Neckar, den der Holder gern besang, einen seiner Mäander – hatte ich bereits einmal erwähnt, dass Flüße, wenn man nur Mut zum Großen Ganzen hat, immer ihre Bögen der Kreiszahl π annähern? Steht irgendwo in Science, 1995 – und just diese Biegung ähnelt aus der Höhe besehen recht eindringlich jener wirtschaftlich und politisch viel signifikanteren Biegung weiter stromaufwärts, in Cannstatt bei Stuttgart. Während des Krieges war die Kenntnis solch flußlicher Selbstvervielfältigung den Nazis ein ganz besonderes Schauspiel wert. Unter dem nom de guerre „Brasilien“ wurde Lauffen zu Stuttgart. Können Sie noch folgen?
Der Stuttgarter Hauptbahnhof, jene von Paul Bonatz geschaffene spätimperiale Quadratperle, wurde flugs aus sehr viel Holz, versehen mit echt gefaketen Flugabwehrkanonen, im Niemandsland an der Lauffener Neckarkrümmung, 40, 50 Kilometer nördlich von Stuttgart, aufs Aufwändigste herbeipotemkinisiert. Ein schwäbischer, arbeitsloser Informatiker schreibt dazu in der Informatikerpostille Wikipedia, unter dem schönen Stichwort „Brasilien (Scheinanlage)“: „An Stangen befestigte Lampen erweckten den Eindruck von beleuchteten Gleisanlagen. Künstliche Lichtblitze sollten fahrende Straßenbahnen vortäuschen, Strohmatten umliegende Straßenzüge.“
So kommt es, dass sich noch heute im schönen Bad Cannstatt in der Nähe des Hauptbahnhofs alte Bürgerhäuser erhalten haben, in deren ausrangierten Bäckereien ich als Kind spielen und etwas unbestimmt Erhabenes, Altes, mich bei weitem Überragendes wahrnehmen durfte. (Dafür haben sich die Stuttgarter fairerweise auch bei den fast vierzig Mal einem der falschen Flußbiegung zugeeigneten Feuer zum Ziel gewordenen Lauffenern bedankt.) Aber so kommt es eben auch, dass man in Lauffen am Neckar vergeblich ein Hölderlin-Erbe herbeisimulieren muss heute, denn Echtes, was immer das sein mag, ist längst fort, verbrannt, einmal, als Lauffen ein Brasilien war, das Stuttgart sein sollte.
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