Wednesday, November 11, 2009

Brasilien

“Yes, I always used to wonder if she wore falsies.”
—Sam Lowry, in Terry Gilliam’s “Brazil”


Ich fühle mich ja wirklich manchmal etwas schlecht, wenn ich ein Leben als Täuschung aufführe. Wenn ich von Städten schreibe, die es zwar gibt, die aber in Wirklichkeit ganz anders aussehen. Wenn ich Personen treffe, die nicht mehr leben und wenn, dann schon gar nicht dort auftauchen würden, wo die Spürnasen von WALL OF TIME sie wieder gesehen haben wollen. Aber es gibt eben kein richtiges Leben im Gefälschten, und so bleibt mir nichts übrig, als Ihnen diese kleinen Spielchen aufzuführen. Und es ist ja am Ende des Tages auch alles wahr, was ich zu berichten weiß. Aber ich gestehe zu, dass es alles sehr ermüdend ist mit dieser Postmoderne.

Und dann lese ich von Brasilien. Nicht jenem Brasilien, dem Oskar Niermeyer, als die Moderne noch ohne Vorsilbe auskam, einen gigantischen Traum in Stein goß. Sondern jenem Brasilien in Lauffen am Neckar. Ich lüge nicht.

Ich wollte doch nur etwas mehr wissen über den Friedrich Hölderlin einmal mehr, der am Fluß Neckar sein Leben gelebt hat, in Lauffen und Nürtingen und Tübingen. Und ich höre: Da ist nichts mehr zu sehen; alles der alliierten luftgestützten Stadtplanung zum Opfer gefallen.

Bei Lauffen, so stellt sich heraus, macht dieser Neckar, den der Holder gern besang, einen seiner Mäander – hatte ich bereits einmal erwähnt, dass Flüße, wenn man nur Mut zum Großen Ganzen hat, immer ihre Bögen der Kreiszahl π annähern? Steht irgendwo in Science, 1995 – und just diese Biegung ähnelt aus der Höhe besehen recht eindringlich jener wirtschaftlich und politisch viel signifikanteren Biegung weiter stromaufwärts, in Cannstatt bei Stuttgart. Während des Krieges war die Kenntnis solch flußlicher Selbstvervielfältigung den Nazis ein ganz besonderes Schauspiel wert. Unter dem nom de guerre „Brasilien“ wurde Lauffen zu Stuttgart. Können Sie noch folgen?

Der Stuttgarter Hauptbahnhof, jene von Paul Bonatz geschaffene spätimperiale Quadratperle, wurde flugs aus sehr viel Holz, versehen mit echt gefaketen Flugabwehrkanonen, im Niemandsland an der Lauffener Neckarkrümmung, 40, 50 Kilometer nördlich von Stuttgart, aufs Aufwändigste herbeipotemkinisiert. Ein schwäbischer, arbeitsloser Informatiker schreibt dazu in der Informatikerpostille Wikipedia, unter dem schönen Stichwort „Brasilien (Scheinanlage)“: „An Stangen befestigte Lampen erweckten den Eindruck von beleuchteten Gleisanlagen. Künstliche Lichtblitze sollten fahrende Straßenbahnen vortäuschen, Strohmatten umliegende Straßenzüge.“

So kommt es, dass sich noch heute im schönen Bad Cannstatt in der Nähe des Hauptbahnhofs alte Bürgerhäuser erhalten haben, in deren ausrangierten Bäckereien ich als Kind spielen und etwas unbestimmt Erhabenes, Altes, mich bei weitem Überragendes wahrnehmen durfte. (Dafür haben sich die Stuttgarter fairerweise auch bei den fast vierzig Mal einem der falschen Flußbiegung zugeeigneten Feuer zum Ziel gewordenen Lauffenern bedankt.) Aber so kommt es eben auch, dass man in Lauffen am Neckar vergeblich ein Hölderlin-Erbe herbeisimulieren muss heute, denn Echtes, was immer das sein mag, ist längst fort, verbrannt, einmal, als Lauffen ein Brasilien war, das Stuttgart sein sollte.


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Zweite Ableitung eines Briefs aus der Vergangenheit (IIX): Gerinnungsprozesse

“Hey Freund, bist Du beim Raum-Theater-Workshop? Ich bin jedenfalls wieder zurück im geheimen Deutschland. Habe in Italien die Dämonen gesucht, oder sie mich, vor allem aber fern der Fernsprecher und -texter und abseits des reißenden Datenstroms Früchte geklaubt, eingemaischt, Weinberge geschaut, Espresso getrunken.

Nun, nach einem völlig in Einsiedelei verlebten Wochenende mit Krustenbraten, Kartoffelsalat, Kempowski, bin ich zurück in der knarzenden, verknoecherten Maschinerie Szienz. Nur schwerlich also drehen sich die Wellen, Räder und Riemen, das Schmierfett, das mir besser aus der Hirnrinde sickern sollte langsam, ist noch fest.

Gestern und heute Morgen klang mantrisch das “Here we go again, all the way from the stars” des nicht unbegabten Klaus Meine aus Hannover durch meine Fluren. Auch muss ich als Darreichungsform stets die schneidenden knapp 100 dB SPL wählen, die Du damals in den frühen Morgenstunden des 25. September 2005 in meinem damaligen Heim wähltest, als Du mir — wie meist: weiser und voraussichtiger, als Dir selbst klar sein konnte — in einer Art Zeitkurzschluss dieses, mein Lied aus dem Jahre 1985,–86 zurück ins Bewusstsein schossest, von wo aus es seinen Gewebs- und Er-Innerungs-Fraß antrat, um nun am Ende des Jahres 2007 zu Hellem, und doch viszeralen Leuchten aus mir aufzusteigen. I am still loving you. Das Wort mit D.

Das Miles Davis Symposium muss wohl ausfallen oder verschoben werden, für den Mittwoch, 07. Dezember wurde mir heute sofort — wie um mich heimzuholen aus den geheimen Traumreichen der Müllers, Meines, Georges, Kempowskis — die Bürde des (zumindest aus heutiger Sicht noch) prestigeträchtigen, nicht irrelevanten Stipendiatenkollegs aufgetragen.

Bald komme ich nach Berlin, es muss sein. Gerade ist kein Geld mehr da (außer vom Sixt Wochenende wäre doch was übrig?), aber spätestens am 27.10. werde ich mich einfinden für Sharon Jones, dem umtriebigen K. zu Ehren (sein Soulsender.de ist nicht unerfreulich, wie ich finde). Dein J.”



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Tuesday, November 10, 2009

Spannungszustand

Ich frage ihn: Wie soll man das verbinden daß du unzufrieden bist, wie du letzthin sagtest, und daß du dich in allem zurechtfindest, wie man immer wieder sieht (und wie es sich mit der solchem Zurechtfinden immer eigentümlichen Rohheit zeigt, dachte ich). Er antwortete, wie es sich in meiner Erinnerung auflöst: «Im einzelnen bin ich zufrieden, an das Ganze reicht es nicht heran.[…]»

—Franz Kafka, 05 September 1913

Diese Notiz fand ich heute, ganz ohne irgendwelche Notiz­sortier­ungs­soft­ware, auf einem Haufen in meinem tragbaren Schreibtisch.

Wednesday, November 04, 2009

Drei Worte

“Muss ich auch sterben?”
—Rudolf

Das weisse Band.

Nun gut, Das weisse Band von Michael Haneke. Ich gehe kaum noch ins Kino, es ist so irrelevant geworden, für mich ganz persönlich. Doch hier war ein Besuch unabwendbar—das war früh klargeworden in den letzten Wochen und Monaten.

Haneke ist ein großer Moralist, das bringt stets mit sich die Gefahr, völlig danebenzugreifen, in allem, und ganz besonders im Ästhetischen. Vielleicht ist Haneke aber auch ein großer Ästhet; einer, der verstanden hat, dass Ästhetizismus mit der Abwesenheit von Moral nichts zu tun hat. Dieser Film hat—so er denn eine Moral transportieren will, wie man Haneke ja immer sofort unterstellt—die Moral ins Ästhetische , und von dort direkt ins Viszerale übersetzt. Es ist ein grausamer und amoralischer Film, über die—per definitionem amoralische—Grausamkeit, die zwischen und in den Menschen wohnt, für alle Zeit und alle Lebenstage.



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