Friday, October 31, 2008

Moderne: Umnutzung

«Between 1940 and 1945 more than thirteen hundred human beings were killed within the confines of a building in Dresden’s comfortable southern suburbs (known as the Südvorstadt). The building, the Justizgebäude, housed the central courts and central remand prison for the whole of Saxony. At the time it was built, in 1907, it was considered and advanced, model institution—with the offices of the clerks and prosecutors, the courtrooms, even the cells where the accused were held awaiting trial, seen as spacious, light and airy. The facilities, even down to a prison library and the visiting room, which separated prisoners from visitors by a wide table rather than a set of bars, were absolutely modern.

Despite its potentially solemn, even grim purpose, the Justice Building, which vaguely resembled the tastefully fortified residence of a middling-ranked princely family, was reckoned by a contemporary critic to be ‘not whole foreign to a sense of benevolent humanity’.»


—Taylor, F. (2005), Dresden, Bloomsbury Paperbacks, p. 182



Dieser Beitrag ist auf Englisch, doch einiges an der Zeitmauer gibt es auch in der hervorragenden Kultur- und Verwaltungssprache Deutsch zu lesen.

Wednesday, October 29, 2008

Strahlt ein toter Wind noch? Jünger, abgetippt.

—“So schreibe ich jeden Tag, auch wenn ich selbst nichts schreiben mag.”

Man kann sich den Schriften eines Vielschreibers, eines täglich Schreibenden, auf unterschiedliche Arten nähern. Lesen ist meist ein Teil davon, seltener das Abschreiben. Ein Mensch mit dem hervorragend geeigneten Pseudonym Mistral («The Mistral in France is a fresh or cold, often violent, and usually dry wind, blowing throughout the year but is most frequent in winter and spring») hat nun beschlossen, sich dem sperrigen Vielschreiber Ernst Jünger und dessen (von vielen als Hauptwerk verstandenen) “Strahlungen”, den Tagebüchern von 1939 bis 1948, zu nähern.

Was tut Mistral? In einem anderen Tagebuch, nicht jenem Jüngers, sondern jenem des Schriftstellers Pippin Wigglesworth-Weider, lese ich:

“Dann tippe ich sie ab. Zwei bis drei Einträge pro Tag. Es ist Tipp- und Schauarbeit. Hin und zurück mit den Augen, weil die Hände noch nicht ganz selbständig auf die Tasten wirken. Das Ziel der Übung, der genaue Blick auf die Worte und das Gehör für ihr Gewicht im Satz, bewusst und unbewusst das Gute zu verinnerlichen. Zu jedem abgetippten Eintrag füge ich ein Bild hinzu, die Auswahl des passenden Motivs ist der Zucker für den Esel. Dann lade ich die Arbeit auf den Weblog: Strahlungen 2010.”

Mistral oder Pippin oder eine Figur, die sie beide bilden, irgendwo zwischen ihren eigenen Vorlieben, Text­begegnungen mit Jünger und einer berührenden Formstrenge, tippen für uns (vielleicht bis 2010, was ich nicht recht glaube, und was auch egal ist) also die “Strahl­ungen” ab, und verleihen Einträgen wie vom 18. April 1939, in Kirchhorst, neues Leben. Man hätte einscannen, horten, selektieren, kopieren, einfügen, apfel v, können. Und vielleicht macht es ein schlauer Mistral auch genau so, und spielt mit uns—dahingestellt.

Was uns geschenkt wird, ist ein web-basiertes Tagebuch, das nichts anderes will, als die fast 70 Jahre alten Gedanken und Sprachspiele eines anderen wieder zum Atmen zu bringen. Keine albernen Youtube-Links, aber auch kein Party-Nacherzählen, oder prätentiöse Befindlichkeit, wie hier manchesmal. Nur die Strahlungen.


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Sunday, October 26, 2008

Leipzig, at last

Nach Monaten reich an Wirrungen ist es einigen Leipziger Kultur­schaf­fen­den vergangenen Samstag doch noch gelungen, den Autor Christian Kracht in den Osten zu locken. Doch statt durch große Buchhandlungen oder die einschlägigen literarischen Zirkel dieser Stadt erfuhr ich erst am späten Nachmittag durch das Murdochsche Periodikum Myspace.com von einer ad hoc Lesung des enigmatischen Schriftstellers—vielleicht war es ihm selbst unheimlich geworden nach all dem Lob im Mainstream, also wieder Untergrund: “Galerie Bothe & Rillert 20.00 h”. Ich musste natürlich hin, und suchte eine ganze Weile nach dieser Hinterzimmer-Galerie, die vermutlich nur für diesen Abend nach den Großmüttern des effeminierten Galeristen so benannt wurde. Wir standen ab halb neun unschlüssig in einer unrenovierten Wohnung aus der Gründerzeit und schauten verstört unter den fünfundzwanzig, dreißig Besuchern umher: Hipster, Studentinnen und einige verstreute Corps-Geister mit Barbourjacke und Koppelschloß, die Faserland wohl etwas falsch verstanden haben.

Kracht, leise und leicht den kleinen Galerieraum durchmessend, erschien punkt neun in Begleitung seiner Gattin Frauke Finsterwalder, einer Art weiblicher Wiedergängerin seinerselbst. Ihm schien das Ambiente auch etwas unheimlich zu sein, aber er nickte freundlich in die kleine Runde, die nun raunend die Monobloc-Stühle besetzte. Es begann stockend; ein erwartet unlustiger Wissenschaftler im “Bingo Handjob”-T-Shirt versuchte, im mittlerweile legendär zu nennenden Volker-Weidermann-Stil in das Krachtsche Schaffen einzuführen, was dem Abend gleich zu Beginn eine Wendung ins Absurde gab. Ich eilte unter leichtem Unwohlsein um ein warmes Bier, um erst zurückzukommen, als Kracht selbst endlich das Wort hatte.

Er las ohne Mikrophon, und so recht wollte keine Stimmung aufkommen; ich fand nicht hinein in seine Worte, war es 1917 oder 2017, man weiss es nicht. Vielleicht lag es auch an der Clique von Endzwanzigern, stadtbekannt durch etliche Elektronikveranstaltungen; sie kicherten bei jeder halbwegs passenden Gelegenheit recht laut los, ganz offensichtlich bemüht, sich den hippen Abend nicht durch die an sich eher sperrige Handlung des neuen Kracht-Romans zunichte machen zu lassen. Kracht las circa fünfzig, ziemlich lange Minuten, nur unterbrochen von seinen Korrekturen an der offenbar suboptimal sitzenden Tim und Struppi-Lesebrille, und einigen listigen Blicken ins Publikum bei den hippen Zuhörern wohl besonders gelungen erscheinenden Stellen.

Er endete etwas abrupt, vielleicht wollte er seinen Lesern keine rechte Klimax gönnen, signierte dafür aber hinterher noch einigen Lesern geduldig seine Werke. Wir versuchten, den Dichter noch zu einer Expedition ins hyperreale (read: nicht-existente) Leipziger Nachtleben zu überreden, aber nach einer kurzen Plauderei über den Vornamen von Slavoj Zizeks Ehefrau sowie die Rolle eines gewissen Martin Luthers im unheimlichen Madagascar-Plan verabschiedete sich Kracht; früh schon ginge sein Zug nach Göttingen.


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Friday, October 24, 2008

Ein Nutzsignal im visuellen Rauschen: Herburg & Weiland

Mrs Eaves war eine gute Haushälterin. Auch wenn es etwas aus der Mode gekommen ist, Menschen zu bezahlen, damit sie nach dem Rechten sehen und damit alles hübsch ist, wenn einmal Besuch kommt, so war Mrs Eaves doch genau solch ein guter Geist, im Hause des Schriftgießers Baskerville, in einer anderen Zeit [1].

Vielleicht hat sich Mrs Eaves auch manchmal eingemischt in Herrn Baskervilles Geschäfte mit guten Vorschlägen, sicher aber hat sie dafür gesorgt, dass sich Herr Baskerville keine Gedanken über die Tischdecke und das Gebäck machen musste, und seine zahlreichen Gäste sollen immer sehr zufrieden gewesen sein.

Die gestaltende Agentur Herburg & Weiland in München stelle ich mir immer wie eine stille, fürsorgliche und fast weise Haushälterin vor, die heimlich in ihrer Stube eine direkte Leitung zu den Universen des guten Geschmacks und der Stilsicherheit unterhält, jedoch niemals so prätentiös wäre, dies irgendjemanden spüren zu lassen [2]. Alles, was ihr Haus verlässt, sieht auf fast unheimliche Art und Weise gut und richtig aus.


REFERENCES

[1] Mrs Eaves, typeface designed by Zuzana Licko in 1996, licenced by Emigre type foundry.
[2] Herburg & Weiland, Munich, Germany


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Testimony (II)

“testimony |ˈtestəˌmōnē|
noun ( pl. -nies)
—a formal written or spoken statement, esp. one given in a court of law.
—evidence or proof provided by the existence or appearance of something: his blackened finger was testimony to the fact that he had played in pain.
—a public recounting of a religious conversion or experience.
archaic a solemn protest or declaration.
ORIGIN Middle English : from Latin testimonium, from testis ‘a witness.’ ”

On Wednesday, October 8, 2008 around 0850 hours I saw Rainer Brüderle here. He was wearing cheap shoes.

On Sunday, October 12, 2008 around 1525 hours I saw Gesine Schwan here. She had fluffy hair.

I was there.

Thursday, October 23, 2008

German smoke screens

FATE |fāt|
noun
1 the development of events beyond a person's control, regarded as determined by a supernatural power : fate decided his course for him | his injury is a cruel twist of fate.
• the course of someone's life, or the outcome of a particular situation for someone or something, seen as beyond their control : he suffered the same fate as his companion.

DESTINY |ˈdestinē|
noun ( pl. -nies)
the events that will necessarily happen to a particular person or thing in the future : she was unable to control her own destiny.
• the hidden power believed to control what will happen in the future; fate : he believes in destiny.
ORIGIN Middle English : from Old French destinee, from Latin destinata, feminine past participle of destinare ‘make firm, establish.’


At night, tired, in front of a bookshelf in the library, a short discussion with Wall of Time’s sabbatical researcher Dr. David Woodard on a feasible translation for the word «Schicksalszeit». A very Jüngerian subject, of course. Somewhat handwavingly, I argued that neither «destiny time» nor (not at all!) «time of destiny» would capture the German connotations of the word at all.

The more I think of it, the clearer it occurs to me that «Schicksalszeit» is a veritable smoke bomb: As if there would be any other time than the one that is identical to your destiny, your fate. The destiny as in destination and the passing of time are one thing alike, as Dr. Woodard with the more rationale, less aetheric, no-nonsense angle of the English language had grasped immediately.

To me, now, it sounds almost banal to claim such thing as a Schicksalszeit, although Jünger might have felt very superior when introducing the term. Jünger really knew how to drop these irresolvable «Vexierbilder»:

«Der Wechsel von meßbarer und Schicksalszeit verwirrt den Betroffenen. Beide sind schwer unter einen Hut zu bringen, wie im Großen Astronomie und Astrologie, auch Naturwissenschaft und Theologie. Und doch ist das seit jeher möglich gewesen und wird immer wieder möglich sein.»

[The alteration of measurable time and time of fate confuses the involved one. They are difficult to pair, like in the big scale astronomy and astrology, also science and theology. But still it has forever been possible and will always again be possible; translation not by W.o.T.]

It is this side of Jünger which I despise: Jünger getting a bit lost in too big a scenario, not having the clarity of thought, more a feverish sound; like us here at the Wall of Time sometimes, admittedly. It is the sound somebody like Gottfried Benn, for example, did not particularly like, and, in attempting to translate German thought to English lingo, I begin to see why.



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Tuesday, October 21, 2008

72 hours, 18.08.–21.08.2008

«On disappearing. If someone disappears, a sudden spot of emptiness is created, a hole, a little lack of energy. Most times this subtle imbalance is filled, through mechanisms of entropy, within short measures of time.

Sometimes it is—inexplicably—more difficult for us to go ahead, to fill the gap, and to brush over such a sudden imbalance. Two months later, looking back on these three days, you wonder: what is it that makes us register certain losses, and totally ignore others.

Some disappearances are not noticed at all, by nobody. Others are.»

—a friend, in an email, this very morning.


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Sunday, October 19, 2008

Wer jetzt keinen Plan hat

Sonntag ist der ärgste Tag. Arg, das sagten die österreichischen Freunde in London immer, wenn sie meinten, etwas sei full on. Könnte man nicht auch T.S. Eliots über-berühmte Eröffnungszeile des Waste Land am besten mit April ist der ärgste Monat übersetzen? So oder so ist der April noch lange hin.

Kaufen Sie sich schöne Schals für den Winter, holen Sie die Monobloc-Gartenmöbel herein, ringen Sie mit sich selbst, laufen Sie noch einmal durch den Park, bevor die Luft zu kalt für die Lungen wird und die Tage zu kurz zum wirklichen Denken. Sonntag ist der ärgste Tag.



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Friday, October 17, 2008

Autobahn 38

Heute ist ein guter Tag. Denn heute sind es erst genau zwei Wochen, dass wir entlang der Auto­bahn 38 unterwegs waren und uns gefragt haben, was es eigentlich heisst, Tourist zu sein. 7000 Jahre, oder 21 Stunden, oder 600 ge­wund­ene Kilometer lang.

Und bereits heute stellen vebfilm.net, um­blaet­ter­er.de, und wall­of­time.net zusam­men eine erste Ausgeburt dieser Ex­pedi­tion vor:

Der kurze Film “Auto­bahn 38” ist ein 23 Minuten langer Genre-Amok­lauf durch die deutsche Geschichte, von Ost nach West, auf Nietzsches und Luthers und von der Wenses Spuren, immer auf der Jagd nach Bratwürsten oder Rosen oder Einar Schleefs Grab, auf English und Deutsch (erhellend polyglott untertitelt), mit bairisch-spanisch-schwäbisch-russischen Einsprengseln.

Im affektiert unaffektiert (Helvetica, Berlin-Mitte, wenn Sie wissen, was ich meine) gestalteten Produktionsblatt des Films schreiben wir, auf Englisch natürlich:

Why do people visit places where other people were born, lived, fought, or died? What does it mean to be a tourist? […] [C]ombining elements of documentary, mockumentary, travel clip, freestyle, different sub­cult­ures, YouTube chic, and a load of explicit or obscure allusions to German and Western culture [, it] follows a tangential structure. Most of the things are just mentioned or shown briefly, it is more like an index to actual contents. Among others, Gustav II Adolf, Nietzsche, Goethe, Cortázar, Pushkin, and infamous German field marshal von Hindenburg are referenced. There is also room for phan­tas­magoric approaches, like an excessive dialogue about the origin of ABC’s hit series “Lost”.

Die Väter des Filmes Stefan Kluge und Frank Fischer sind strenge Adepten des Creative Commons Li­zenz­ier­ungs­ver­fahr­ens; ich verstehe davon nichts, aber ich glaube, es bedeutet, Sie alle, geneigte Leser und Betrachter, können sich den Film gerne zur Brust nehmen und einen, früher nannte man das:, Remix erstellen. Oder ähnliches. Es kostet jedenfalls alles nichts.

Autobahn 38. Schauen Sie jetzt!

(Zum Aufbewahren in schöner Qualität, 342 MB, bitte hier speichern.)

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Thursday, October 16, 2008

Samsara

Sterben wir wirklich
Nur einmal?

fragt ein ausnahmsweise dichtender W.G. Sebald in seinem neuen Buch – dem Buch eines Untoten, wie um seinen eigenen Vers zu bestätigen; oder um ihn zu negieren?

Ich jedenfalls bin erst seit zwei Stunden wach, und seitdem schon dreimal gestorben.



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Wednesday, October 15, 2008

Synchronicities

“1917—World War I: At Vincennes outside of Paris, Dutch dancer Mata Hari is executed by firing squad for spying for Germany.”

An einem 15. Oktober denke ich: Gut möglich, dass sich meine hier desöfteren bereits erwähnte Großmutter Elfriede Kallenberg und die legendäre holländische Spionin Mata Hari diese Welt und ihre Luft zum Atmen noch einige Minuten teilten. Besessen wie ich bin von den Staffelläufen, die das Leben darstellt, lässt mich dieser Gedanke erschauern. Irgendwann im Laufe des 15. Oktobers, heute vor 91 Jahren, wurde Margaretha Geertruida “Grietje” Zelle das Leben genommen, und Elfriede Margarete “Friedl” Fellinger selbiges gegeben.

Die eine stellte man etwa hier (48°50′42″N, 2°26′05″E) auf, fesselte sie nicht, auch die Augen verband man ihr nicht, sie schien es nicht zu wünschen, und schoss auf sie. Es ist seltsam bis ermüdend unergiebig, dass sich die Augenzeugenberichte solcher Erschießungen im Ende doch stets so gleichen.

“She lay prone, motionless, with her face turned towards the sky. A non-commissioned officer, who accompanied a lieutenant, drew his revolver from the big, black holster strapped about his waist. Bending over, he placed the muzzle of the revolver almost—but not quite—against the left temple of the spy. He pulled the trigger, and the bullet tore into the brain of the woman. Mata Hari was surely dead.”

–schreibt ein Herr Henry Wales für den International News Service nur vier Tage später, aber man kann sich nicht des Vergleichs mit Gottfried Benn erwehren, der in seiner einzigen journalistischen Arbeit viele Jahre später einmal über die bereits 1915 stattgefundene Exekution der Edith Cavell recht ähnliches zu erzählen wusste. Wer schreibt von wem ab, oder ist es einfach stets der gleiche Plot mit geringfügigen Abweichungen, stets die gleiche Mär vom nicht zuckenden Auge und der Würde, die so oder leicht anders ja auch Jünger im Wäldchen einen Krieg später gespürt haben will.

All dies jedenfalls ereignete sich, während nur wenige hundert Kilometer entfernt, etwa auf 49°15′0″N, 6°51′0″E, meine spätere Großmutter zur Welt gelangte; und vielleicht gingen sie ja doch noch einige Atemzüge zusammen, die dem Tod geweihte Tänzerin und das dem Leben geweihte Mädchen, dessen weiterer Weg auch zu meinem Werden beitrug. Über Ausmaß von Würde und zuckenden Augen bei der Erstgebärenden dort im Saarland ist nichts überliefert.


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Tuesday, October 07, 2008

Consult the genius of the place in all

Die Straße ist Raum, und Zeit. Fast trivial, wenn man es so geschrieben sieht. Hinter die Trivialität dieses Satzes habe ich vergangenes Wochenende am sogenannten Tag der Deutschen Einheit mit meinem polyglotten Nachbarn Paco und den Freunden von VEB Film Leipzig schauen dürfen—denn manche Straßen sind sehr viel Zeit auf sehr wenig Raum:

Was weiss ich denn über deutsche Geschichte, ich, als Betreiber dieses Teesalons über Geschichte und Zeit und Erinnerung, den die Wall of Time darstellt? Kann man diese Geschichte vielleicht er-fahren (dieses ebenfalls triviale Wortspiel drängt sich auf), am Stück, ohne Schlaf? Kann das ephemere, formlose, das Hirn überrollende Deutsche Etwas, wie es zu Beispiel mit einem Sonnenobservatorium vor 7000 Jahren beginnt, mit Thomas Münzer über Napoleon und viele vergessene Poeten Fahrt aufnimmt, auch von Nietzsche nicht zu stoppen ist, Hindenburg unter sich begräbt, in Betonplatten sein praktisches Heil sucht, und sich schließlich in Form einer neuen, blühende Landschaften verheissenden Schnellstraße von Leipzig nach Göttingen in den Südharz kratzt —

Kann so ein Stück Deutschland vielleicht es wert sein, befahren zu werden? Könnte es nicht eine gute Idee sein, dort einmal entlang zu spüren, mäandernd, einem Flusse gleich, der die Kreiszahl Pi ap­pro­xi­miert (Stølum, 1996), auf und ab von der Autobahn und wieder hinauf, immer auf den Spuren von irgendetwas, das man genau jetzt für relevant hält?

Lasst mich Euch erzählen wie es gewesen ist. Bald, hier, von mir, und anderen, anderswo. Stay tuned on route A 38.


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Thursday, October 02, 2008

Vielleicht ein Ausweg, ein Entkommen: Das neue Buch von Christian Kracht

In einer aktuellen Portraitphotographie sieht man den Dichter Christian Kracht innehalten, und eine Fliege sitzt dort, wo andere Lichtgestalten einst ihren Schönheitsfleck hatten. Die Fliege sonnt sich, oder sucht den Schatten unter Krachts Nase; und hätte Tom Ising nicht so einen mesmerisierenden Umschlag entworfen, der mit einer alten (nicht einmal fiktiven) Afrika-Karte den Ton setzt, und wären Autorenfotos auf dem Cover nicht spätestens seit den verlustreichen Schlachten am Adlon 1999 wegen akutem Mißverstand verboten, so könnte auch dieses Bild eine hervorragende Vignette sein für diesen neuen, vielleicht letzten Roman von Christian Kracht.

Denn, überhaupt, die Tiere: Vorangestellt hat Kracht diesem Lied in Buchform ein Zitat von D.H. Lawrence, in welchem der Anmut einer Wiese mit nichts als einem Hasen darauf gehuldigt wird; durch den Buchtrailer von Frauke Finsterwalder flattert ein Schmetterling und scheint einer gravitätischen Bahn nach Afrika zu folgen. Und am Ende, soviel sei verraten, tragen Hyänen eine Art von Sieg davon.

Im übrigen den einzigen Sieg, den es noch zu erringen gibt, den eines freien Lebens über den Hirntod: In Krachts Sonnenschein, wie in allen seinen Erzähltexten, ist die Zeit aufgehoben, Post-Histoire in Reinkultur: “Weil es keine Geschichte mehr gibt, dürfen die Ereignisse nie aufhören”, also liefern sich die eifrigen und diffus guten Schweizer noch Scharmützel mit den Deutschen, aber der große Krieg wird nicht gewonnen werden, er dauert gefühlt schon ewig und wird es immer tun. Aber hier, plötzlich und unvermutet anders als in “Faserland” und in der faux period novel “1979”, spürt man am Ende vielleicht doch einen Ausweg, ein Entkommen aus der Endlosschleife des abhanden gekommenen Sinns.

Es sind ausserdem oder vor allem in diesem Buch, wie stets bei Kracht: die klaren Sätze, von allem Ballast befreit; die einprägsamen Bilder, die man gemeint hat gesehen zu haben, ohne sich genau erinnern zu können; die lustigen und listigen doppelten Böden, die der Autor für unser wiederholtes und vertieftes Lesevergnügen eingezogen hat; die Träume, also: die so oft beschworene und doch so selten einfach niedergeschriebene Phantasie.

Als ich das Buch zu Ende gelesen hatte, nachdem ich diesen Traum nachgeträumt hatte gewissermaßen, und nachdem ich diesem Humanisten in Uniform nach Hause, nach Afrika gefolgt war, der uns voraus fliegt wie der Schmetterling, war für ein paar Minuten alles gut. Mehr kann man nicht verlangen. Kaufen Sie dieses Buch, und geben sie es nicht mehr her.


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