Auf dem Rückflug gestern machte mein Herz eine kleine Extrasystole, als ich bemerkte, dass ich neben dem Germanisten und Schriftsteller Max Sebald saß. Der große Mann auf dem Fenstersitz war mir am Gate gar nicht aufgefallen. Er schien ein routinierter Reisender zu sein, der nicht viel Aufhebens machte. Vor sich auf den langen Oberschenkeln lagen schon zwei Examensarbeiten; Ringbindung.
Eigentlich hatte ich vorgehabt, endlich in dem neuerworbenen Wälzer über die Zerstörung Dresdens weiterzulesen, der mich schon am Gate gefesselt und das Wasser in die Augen gedrückt hatte. Aber ich konnte nicht neben Sebald sitzen, und in einem Buch über den Luftkrieg lesen, das wäre einfach too much.
Das glaubt mir wieder keiner, denke ich. Hier sitze ich, in Gedanken ganz 1945, in Suffolk, Bomber country, und dann in Dresden; bei der riesigen Bomberflotte, wie sie ihren Tanz am Himmel beginnt, sich über dem Kanal sammelt; bin ein Teil des Blech-Konfetti, das zuerst in den deutschen Radarschirm regnen sollte; all das denke ich, während ich mit einem Haufen freundlicher Engländer auf ihrem Weg zum Oktoberfest in einer Zivilmaschine sitze und wir bereit sind abzuheben, den Weg der Lancasters über Belgien hinweg nachzuzeichnen; und dann sitzt da Sebald persönlich neben mir. Er sieht etwas älter, aber auch drahtiger aus als auf den letzten Photos von 2001.
Ich ringe bis über den Kanal mit mir, ob ich ihn ansprechen soll. Es wäre sehr albern. Ich achte stattdessen auf seine Hand, die an den Rand der Arbeit mit einem Bleistift hin und wieder etwas notiert, strichelt, eher. Als die Getränke anrollen, schnarrt es in dem mir bestens bekannten Bairisch-Englisch unter dem Schnurrbart hervor, “an orange juice, please”. Ich sehe von meiner Bierbestellung ab.
Jetzt rast mir der Kopf. Wie bereichernd wäre es, mit Sebald selbst zu sprechen, jetzt, wo er einfach so mit mir aus seiner Wahlheimat England nach Deutschland reist. [Heute morgen habe ich herausgefunden, dass er wohl als Keynote speaker auf einem Symposium von Aleida Assmann zu kollektivem Gedächtnis in Konstanz eingeladen ist. Wieso bin ich nicht dort?] So gerne würde ich ihn fragen, wie er das gemeint hat mit der Heimkehr nach Deutschland, ich glaube, er schrieb einmal, ‘On a bad day, returning to Germany brings back all kinds of spectres from the past’. Ist dies heute ein schlechter Tag, für mich? Für ihn? Niemand anders in diesem Flugzeug denkt jetzt vermutlich an Dresden, wir fliegen ja erst einmal nach München, sowieso, und an die Bomben und den Brand denkt erst recht keiner. Bei meinem bedeutenden, stillen Reisegefährten hingegen bin ich mir fast sicher, dass er daran denkt. Aber vielleicht sehe ich etwas in ihm, das er nicht sein will.
“Herr Sebald, es ist verrückt, ausgerechnet diese Strecke mit ihnen fliegen zu dürfen. Sie sind doch Herr Sebald?” — oder besser auf Englisch. “Do you know, by any chance, the works of Christian Kracht? They somehow, oddly, keep reminding me of some of yours, although he writes vastly different, from a technical point of view.” — “Sie haben auch einmal in Klagenfurt gelesen, nicht? Und einmal in meiner Heimat, in Stuttgart. Das war ein wunderbarer Text.” Ach, es wäre alles zu peinlich. Ich schweige.
Der stille Mann schaut mich nur einmal an, beim Aufstehen, wie er sich aus der engen Sitzreihe windet, nach einer friedlichen Landung in einer deutschen Stadt. Er schaut, mit einem freundlichen Zug unter dem Schnurrbart, und ich hoffe, dass er weiss, dass ich weiss. Eine Stunde haben wir wieder verloren, für irgendwas, wie ein Pfand, das wir einzuzahlen haben, kurz vor fünf ist es, und ich muss mich wirklich beeilen, um die Maschine nach Leipzig nicht zu verpassen. Die Maschine, so sagt man ja gar nicht mehr, denke ich. Ich sehe ihn zum letzten Mal bei der Passkontrolle, als er, am Schalter nebenan, einen deutschen Reisepass, den grünen noch, hinüberreicht.