«Wir sind damals öfters mit meinem ersten Auto hinter Riedlingen die Wälder hoch gefahren. Einmal, das weiss ich noch, hatte einer eine CD mit der Johannespassion dabei. Dieses “Herr! Herr! Herr!” in einer das Maß des Vernünftigen übersteigenden Lautstärke in der oberschwäbischen Morgendämmerung, das war zuviel. Ich glaube nicht, dass die anderen die Tränen bemerkt haben damals.
Zweck dieses Endes der Nacht war es jedenfalls, uns auf die Lauer zu legen mit dem Fernglas. Ein altes Fernglas, in muffigem Futteral, vielleicht aus jener Zeit, als das Objekt unseres Lauerns mit den anderen angry old men schriftlich quer durch die Republik, von Todtmoos nach Plettenberg nach Wilflingen und zurück, konversierte und man sich gegenseitig über die Linie hinweg oder wahlweise auch “über ‘die Linie’” die Bälle zuspielte und noch den langen Atem für den gepflegten Dissenz hatte.
“Der Blick ist kein Blick mehr, seit es Projektile gibt”, hörte ich vor kurzem erst so einen Berufsjungdichter lesen, und da waren diese Bilder der noch sehr kalten Frühlingsmorgende am Riedlinger Waldrand damals wieder sehr präsent: Wie wir da lagen, irgendjemand nuckelte an einem letzten Bier aus einer 0.3 l Dose; wie wir warteten, dass der weiße Schopf des mittlerweile doch sehr kleinen Mannes unten am Rand der Siedlung auf seinem frühen Spaziergange auftauche; und wie ich dann immer dachte: Der hat ja einen Helm aus Haar auf, und Das ist ja gar kein Nazi, obwohl das meine Verwandten fanden. Auch, dass da ein so unwirklich alter Mann durch unser Visier wandelte, und dass wir so alt waren, wie er selbst, als er auf den Anhöhen gelegen und er andere in seinem Visier zwangsläufig weniger unbehelligt gelassen hatte, im großen Krieg.
Aber was uns wirklich bewegte, in den Frühlingstagen des Jahres 1993 mindestens drei–, vielleicht viermal uns an das Gesamtkunstwerk Ernst Jünger heranzupirschen, mit seinem Haarschopf, und seiner Zigarette, und seinem Renterblouson, und seinem erstaunlich festen Schritt für so ein altes Männchen, das frage ich mich heute auch.
Später, als er tot war, längst, habe ich begonnen, mich seinen Worten anzupirschen; habe ihn gejagt in den dicken Büchern, und habe mit ihm die farbigen Monokel in Ypern und an der Somme getragen, habe meinen Schmerz in seinem gesucht, wollte ein Torpedo unter seinem spirituellen Lenken werden kurzzeitig; auch habe ich bemerkt, wie er immer so ein kleines bisschen zu spät kam mit vielem, ein Schreibtisch-Futurist war er geblieben. In Paris dann, wie wir zusammen an kleinen sonnigen Plätzen sassen und den Mädchen nachschauten und ich in seinen Worten einen Stich, einen Schmerz spürte, da war ich ihm nah. Später ist er zu den Planeten aufgebrochen und in den Wald gegangen, und da verlor ich etwas lustlos seine Spur. Beredt also, dass ich viele Jahre zuvor genau dort zuerst auf ihn gelauert hatte; ihn, das weltberühmte Einsiedler-Unikum, das uns—neben dem einen Mal, als mein Schulfreund mit dem geklauten 80er an der Todeskreuzung sich das Hirn aufwetzte—einige Male einen Hubschrauber im Dorf bescherte.
Wir sind dann nicht mehr in den Riedlinger Wald gefahren früh morgens, vermutlich weil der Zivildienst kam, und anderes zurecht wichtiger wurde als den fast schon versteinerten bad guy seine Schritte bemessen zu sehen.»
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