Wednesday, April 30, 2008

Das Jahrhundert der Johanna Jürfeld

—für Peter Bichsel, W.G. Sebald, und Johanna Jürfeld natürlich

Dies ist die Geschichte von Johanna Jürfeld. Johanna Jürfeld war eine außerordentliche Frau. Sie schaffte, was viele von uns nur zu gern können würden: Sie wusste zu leben. Sie besaß ein Maß der Dinge, und wusste auch, wann es genug war mit allem. Vor allem wusste sie, ab einem gewissen, uns unbekannten Zeitpunkt, dass sie ein Jahrhundert, ihr Jahrhundert, überleben wollen würde. Und so geschah es.

Johanna Jürfeld war 1899 geboren worden. Ebendamals ließ der amerikanische Kongress Wahlmaschinen zu, eine Technik, die ganz offensichtlich im Jahre 2000, als Johanna Jürfeld starb, immer noch nicht funktionierte. Es ist sehr wenig bekannt über Johanna Jürfeld, und wir wissen nicht, wie sie den sogenannten Ausbruch des ersten Weltkriegs erlebte, ob sie um Franz Ferdinand trauerte, wie vielleicht nur Kinder um Fremde trauern können, in ihrer aufrichtigen Mischung aus Faszination und Schock, so wie ich—wenn dieser Zeitsprung erlaubt ist—um Indira Ghandi trauerte, mir ist als sei es der 2. November 1984 gewesen, als ich vom Kindergeburtstag nach Hause kam. Oder sah die bereits 15jährige nicht eher in der Zeitung das berühmte Bild des nur wenige Jahre älteren, eingeschüchtert dreinblickenden Attentäters Gavrilo Princip, und klopfte ihr Herz nicht für Bruchteile von Sekunden für den kühnen jungen Mann, der der Todesstrafe entging?

Wir wissen ebenso wenig, wie Johanna Jürfeld den Wechsel der Regime, das Exil des Kaisers über die Leichen der Revolutionäre im Landwehrkanal hin zum nicht unsympathischen rheinischen Singsang des Gnoms Goebbels erlebte. Auch ist nicht bekannt, wie es Johanna Jürfeld vorkommen musste, in Schwerin zu sein als der große Krieg verloren war und alle sich sehr verraten und verkauft vorkommen mussten, und ob sie es wohl für die richtige Seite Deutschlands hielt, in der sie nun einmal lebte.

Vielleicht war es ja schon damals, dass sie gedachte sich nicht mehr lumpen zu lassen von den Gezeiten, den unberechenbaren, der sogenannten Geschichte und dass sie ihre eigene Zeit leben würde. Vielleicht war es aber auch erst, als 1989 ein weiteres Regime sich als sehr vergänglich herausstellte, und Johanna Jürfeld mit 90 Jahren schon wieder in blühende Landschaften umziehen und neues Geld benutzen sollte, dass sie beschloss, ihr Jahrhundert zu überleben.

So lebte sie, ging einfach weiter jeden Tag hinunter zur Strasse, schwatze mit den netten jungen Leuten nebenan, machte ein Kreuz nach dem anderen in ihren Kalender, und wartete. Wartete, dass es 1999 würde. Und so kam es, und auch das Jahr 1999 ging vorbei, und Frau Jürfeld hatte ihr Ziel erreicht. Der Bürgermeister wollte sich nicht so recht freuen mit der Hundertjährigen, es gebe ja auch außerdem zwei ältere Frauen in Schwerin, und das solle doch die Gemeinde tun, doch mit der Gemeinde hatte Frau Jürfeld nichts zu schaffen, und so feierte sie eben bescheiden allein, kein Helmut Kohl oder Mitterand kamen mit dem Hubschrauber wie bei Ernst Jünger damals, aber Frau Jürfeld hatte ja auch nicht Tausende von Buchseiten vollgedacht in ihren Hundert Jahren, sie hatte einfach gelebt und gewartet.

Und als ihr Jahrhundert mit den fünf Regimes und mit den siebzig Jahren im selben Haus, und den vierzig davon allein, vollbracht und ein Jahrtausend en passant auch noch besiegt war, da legte sich Johanna Jürfeld einfach hin und ließ es gut sein.



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Tuesday, April 29, 2008

Verzweigungen, Kreuzungen, Momente (II)

Momentaufnahme: Eine Frau in ihren späten 60er Jahren geht durch eine schwäbische Kleinstadt. Genauer geht sie die wenigen Meter von ihrer ehemaligen Arbeitstätte, einer beschaulichen Schule in einem stattlichen Schulhaus, an die sie gerne und oft zurückkehrt zur Aushilfsstunden, zu ihrem Wohnhaus, in dem sie so lange lebt, wie sie in dieser Schule arbeitet, seit fast 40 Jahren. Wie die Frau so entlanggeht, den Blick auf den Asphalt gerichtet, da schaut sie auf einmal ein Gesicht an, verschwommen, und vielleicht ist es ihr, als sei sie das selbst, damals, in den späten 1960er Jahren.

Ein modischer Kurzhaarschnitt, und etwas zugleich Neugieriges, Wachsames und Schüchternes spricht aus dieser—halt, eine Photographie ist es nicht, es ist gemalt, es ist, ja, die Frau bückt sich und hebt das Stück Karton auf, zertrampelt und gekörnt wie es ist vom rauhen schwäbischen Kleinstadtasphalt, von nichtsahnenden Kinderturnschuhen, aus den Disountmärkten oben an der Ausfallstrasse, ja, es ist die Reproduktion eines Gemäldes. Von Gerhard Richter, geboren 1932. “Momentaufnahmen”, steht in Futura oben links, und unten rechts, “Gerhard Richter”, für die Schulkinder.

Wie die Lehrerin schnell bemerkt, entstammt dieser Findling einer Art Kunst-Lehr– und Materialiensammlung für Schulen. Er zeigt passenderweise ein Exemplar der “Acht Lernschwestern” aus dem Jahre: 1971. Fast, also. 1971, war die damals noch junge Lehrerin und Mutter vielleicht gerade zurück im Schuldienst? Wie mag der Weg, auf dem nun diese Karte zu liegen kam, damals ausgesehen haben? Das Haus der jungen Lehrerin stand erst ein Jahr, als eines der ersten der Siedlung, viele der heute hier stehenden waren noch nicht einmal gezeichnet, von jungen aufstrebenden Ingenieuren und Statikern. Doch heute erinnern uns die Häuser selbst allesamt an staubige, gefühlstote Sommer mit wenig klingenden Kalenderdaten wie 1979, 1984, 1987 und sind die Statiker längst tot, auch wenn sie wenigstens der Nachbarschaft die schöneren, eigenen Häuser hinterlassen haben, die über sich selbst hinausweisenden, die wenigstens entfernt von einer Welt ausserhalb der Kleinstadt künden.

So ändert sich alles, dreht sich, revoltiert, während eine gemalte Photographie einer Lernschwester des teuersten unserer lebenden Maler in einem Materialienschuber in einer Dorfschule sich ausruht für die rauen Tage auf dem nassen Asphalt im Jahre 2008, und während all dieser Jahre die Lehrerin ihr langjähriges, geglücktes Werk mit den Lernenden vollbringt, die in der Kleinstadt bleiben oder gehen, Gerhard Richter kennen– und liebenlernen oder: eben nicht.

Momentaufnahmen.



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Monday, April 28, 2008

Das Böse des Banalen: Sieben kulturpessimistische Versuche


I.
trivial • adjective
1 trivial problems unimportant, banal, trite, commonplace, insignificant, inconsequential, minor, of no account, of no consequence, of no importance; incidental, inessential, nonessential, petty, trifling, trumpery, pettifogging, footling, small, slight, little, inconsiderable, negligible, paltry, nugatory; informal piddling, picayune, nickel-and-dime, penny-ante; trademark Mickey Mouse. ANTONYM important, significant, life-and-death.
2 I used to be quite a trivial person frivolous, superficial, shallow, unthinking, airheaded, featherbrained, lightweight, foolish, silly, trite. ANTONYM profound, serious.

II.
Amstetten, Niederösterreich.
Bayern vs Getafe, Viertelfinale.
Deutschland sucht den Superstar, Motto-Show.

III.
banal • adjective
banal lyrics trite, hackneyed, clichéd, platitudinous, vapid, commonplace, ordinary, common, stock, conventional, stereotyped, overused, overdone, overworked, stale, worn out, timeworn, tired, threadbare, hoary, hack, unimaginative, humdrum, ho-hum, unoriginal, uninteresting, dull, trivial; informal old hat, corny, cornball, played out; dated dime-store; rare truistic, bromidic. ANTONYM original.

IV.
“Inzest-Fall von Amstetten ist weitgehend geklärt.”
“Die Aufklärung des Kriminalfalls, der Österreich und die Welt erschüttert, begann vor neun Tagen.”
“Unvorstellbares Martyrium”
“Für Rosemarie F. sei eine Welt zusammengebrochen.”
“Ein anderes Entführungsopfer, Natascha Kampusch, bietet inzwischen ihre Hilfe an.”

V.
Was denkt man da?
Was ging da in Dir vor?
Wie fühlt man sich in so einem Moment?

VI.
Unbeschreiblich. Wahnsinn. Einfach geil. Man ist sprachlos. Unvorstellbar. Der pure Wahnsinn. Schrecklich. Hier bei uns. Emotion pur.

VII.
Das Scheitern von Zusammenhängen. Das Ende der Syntax. Das Ende der Versuche, durch Syntax Zusammenhänge zu schaffen.

Frage, einfach, Antwort, komplex: Soll ich mich mehr über die Menschen wundern, die in Kameras nur noch in Drei-Wort-Ausrufen antworten (dürfen)—ohne Verben und jegliche Syntax, die Binde- und Schmiermittel, die erst Kausalität, Zusammenhang, Kohäsion, Logik erlauben würden? Oder über die Artikel in den besten der schlechten Tageszeitungen, jetzt neu mit Syntax!, in denen alles unfassbar, gleichzeitig aber schon geklärt ist? Oder doch über die grausame und peinliche Frage, was (wahlweise) ich gefühlt habe als, in mir vorgehe wenn ich so etwas, man fühle wenn? Und: Bin ich, jetzt, wenn ich ermattet auf die Tastatur meines eigenen Sensoriums und Emotikums sinke, wieder nur der lahme Kulturpessimist, der irgendwas nicht verstanden hat?

Nicht alles lässt sich verkürzen. Nicht alles was man fühlt, vielleicht, kann man sagen, oder möchte man überhaupt sagen. Um das einzusehen, muss man nicht Psychologie studiert haben. Es reicht, sich zu überlegen, wann man das letzte Mal eine wirklich enge Freundin gefragt hat: “Was ging da in Dir vor, als Du das gehört hast? Was fühlt man da?” — genau. Also warum einfach, wenn es doch kompliziert ist?
Und bevor irgendeine RTL-Mitarbeiterin jetzt Hannah Arendt zitiert: Nein, anders herum, die Banalität ist es, die böse ist.


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Der Traum vom Fliegen, ein fliegender Traum

Es ist vermutlich eine Schande, erst dieser Tage von der großartigen Fluglinie Ingold Airlines zu erfahren. Da aber ein guter Traum auch nach 26 Jahren wahr werden kann, hier nichts weiter als eine Verbeugung vor großem richtigem Leben im Falschen: Die Fluglinie Ingold Airlines des Inhabers und Kunstprofessors Res Ingold.

Aus einem kürzlich erschienen Interview mit Seniorchef Ingold:

SZ—Was ist bei Ingold Airlines anders als bei anderen Fluglinien?
Ingold—Fast alles. Wir bilden im Prinzip eine ideale Fluggesellschaft ab. In der heutigen Gesellschaft ist alles billig und schnell. Der Idealpassagier einer konventionellen Fluggesellschaft passt ins Konzept der Airline und zahlt gut Geld, dann ist das in Ordnung. Das kommt dann den wirtschaftlichen Entwicklungen entgegen, aber es geht zu Lasten der individuellen Genussfähigkeit. Ingold Airlines war nie eine Billigfluggesellschaft und wollte es auch nie werden. Bei uns stehen die Träume und die Wünsche der Passagiere im Zentrum. Wie suchen die ideale Servicekombination für jeden individuellen Fall. Ingold Airlines möchte die Idee verbreiten, dass man seine kurz bemessene Lebenszeit möglichst optimal nutzen sollte. Will ich mich mit tausend anderen wie in einer Sardinendose zusammengepfercht an einen Strand liegen? Oder bin ich es mir wert, ganz andere höchst individuelle Ziele zu finden und die Zeit optimal zu genießen?


Ich bin gespannt, wann Ingold Airlines Opfer der ersten Flugzeugentführung (gibt es so etwas noch?) oder des ersten Absturzes wird. Ich jedenfalls werde zu meiner nächsten Flugreise mit Ingold Airlines vermutlich von einer der zahlreichen Haltestellen von Martin Kippenbergers weltweitem U-Bahn-Netz aufbrechen.


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Friday, April 25, 2008

Spiralen einer Erinnerung: Ankündigung David Woodard, Christian Kracht, Ma Anand Sheela

Ausstellung 02.05.—24.08.08
«Dreamachine: David Woodard, Christian Kracht, Ma Anand Sheela»
Kuratiert von Adrian Notz und David Woodard; Eröffnungsgala am 02.05.08 um 20:00 mit einer Lesung von Christian Kracht, einem Vortrag von Dr. David Woodard und einem Gespräch mit Dr. Sheela Birnstiel


Spiralen der Erinnerung, Spiralen der Ereignisse. Spiralen verdichten sich, in einem Punkt. Eine solche Spirale liesse sich schreiben aus drei Charakteren, die auf den ersten Blick nicht viel miteinander zu tun haben. Wer sagt, die großen Erzählungen seien vorbei, war das Lyotard? Nun denn, hier ist eine neue, große Erzählung. Sie beginnt im Feburar 1916 im Cabaret Voltaire in Zürich und findet einen vorläufigen Kulminationspunkt kommenden Freitag, den 02. Mai ebenda.

Ein kleiner, maximal subjektiver Auszug aus den Spiralen der Erinnerung könnte sich etwa so lesen (magischerweise wird das Bild durch Anklicken größer):



Zu guter Letzt, zur Verdeutlichung, darf ich um Aufmerksamkeit bitten für einen kleinen Auszug aus dem Pressetext des Cabaret Voltaire, Zürich, der auch als spirituelle Unterweisung im Verfassen von Pressetexten durch Dr. Woodard selbst verstanden werden kann:

“Sheela and Woodard guided a group of 14 gifted patients in a symposium centered on the muse-like and therapeutic value of stroboscopic light. For a period of two hours each day—culminating on April 16, the sixty-fifth anniversary of [LSD dicoverer] Hofmann's invention—patients created watercolor paintings in the presence of a Dreamachine, which was lent for this purpose by the German art collector Alexander Schröder.
Along with the Dreamachine, which visitors are welcome to experience in the privacy of a cordoned area, a selection of completed works from Woodard's and Birnstiel's symposium are on view.
Please greet the artists at our Friday, May 2 reception: Christian Kracht will read from a text distinguishing the Dreamachine from TV, and David Woodard will read from a text connecting the Dreamachine to the realm of coincidence and Sheela Birnstiel will present her work in Matrusaden and her experience with the Dreamachine, after which Kracht, Birnstiel and Woodard together will form a brief Q&A panel.”

Es verschafft allen Mitarbeitern hier an der WALL OF TIME große physische Schmerzen, die an und für sich zwingende Reise nach Zürich nächste Woche nicht antreten zu können. Aber bitte, liebe Leser, eilen Sie zahlreich und gehen Sie dieser großen Erzählung selbst auf den Grund.


Photo: Arne Ahlert, Schloss Wiesenburg, 2008; Illustrations: Wall of Time

Wall of Time Employee of the Month: Klaus Meine

I would like to express my heartfelt thanks to KLAUS MEINE, of Scorpions, Nordoff-Robbins and Gerhard Schröder tennis court compañero fame, for his efforts on the song Still loving you.

[Yikes, cheesy Scorpions? Now, I guess we can skip all the distinction crap; see Kracht, 1995, Bourdieu, 1984, and Sontag 1964 for comprehensive and ultimate takes on how pointless it has become.]

I therefore feel most obliged to pay tribute to one of the unsung heroes of Bigtime guitar-based German Weltwunder. Klaus Meine is by any standard you could possibly come up with a very, very good Rock’n’roll singer. Also, and crucial to his achievement under consideration here, it is not entirely clear as to whether or not his German pronounciation adds to or subtracts from that.

WALL OF TIME honours Klaus Meine explicitely for his double contribution to Still loving you both as a lyricist as well as a singer. The jury would like to point your attention exemplarily to two aspects:

One being the haunting dynamic range of Meine’s delivery throughout the classically suspended build-up of the song, neatly preserved by pre-compression-craze studio engineers under the auspices of Dieter Dierks (probably also responsible for arranging Meine’s voice in this cozy yet rapturing environment of the flappiest snare sound this side of your mother’s detergent boxes and the most soulful guitar accents ever to make it onto a 1980s Hard rock LP),

Another one being the chorus lyrics pronounced in a decidedly German accent, convoluted with Meine’s recent recovery from vocal chord surgery: A combination that allows for poetic re-configurations in the listener’s mind. Such would have been unthinkable to experience with Meine’s native English Heavy croon contenders back then in 1983: Here we go again, all the way from the stars. Although the actual written lyrics are also very good (feel free to look them up), this version—imprinted in my neural circuitry for 22 years now—is preferable at any rate. The jury was also very convinced by the casual afterthought conveyed in I would try to change things that killed our love.

Thank you, Klaus Meine.



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Wednesday, April 23, 2008

Lonesome George

—In Memoriam Ludwig Obleser, † 23.04.1992

Heute ein Zitat, eine Meditation, eine Affirmation; ein lautes Ja, das eigentlich ein schweres Nein ist, nämlich, einfach:

Nicht zu Ende denken.
Nicht Mitmachen.
Die Freizeitangebote
nicht wahrnehmen.

Aber auch: Nicht sterben, noch nicht. Wir hören einen langsam, zögerlich Sprechenden, der fast selbst zu erschaudern scheint vor der Tragweite seiner Idee:

“Es gibt da auf dieser Insel eine Schildkröte, und die heisst Lonesome George. Lonesome George, das ist wirklich wahr, ist das letzte Tier seiner Art, und wenn Lonesome George stirbt, ist diese Art ausgestorben. Und nun haben Biologen herausgefunden, dass 300, 200, 300 Kilometer entfernt auf einem anderen Archipel zwei Schildkrötenweibchen leben, die dieser Art ähnlich oder verwandt sind, und jetzt haben sie die natürlich nach Galapagos geholt zu Lonesome George, und warten nun seit gut 20 Jahren darauf, dass sich Lonesome George fortpflanzt, aber der will natürlich nicht—was vielleicht auch verständlich ist, denn das Tier ist ja 157 Jahre alt—und diese Biologen aus der ganzen Welt holen diesem Tier jeden Morgen einen runter, das stimmt tatsächlich, und der will aber eben nicht.

Und ich stand vor diesem Tier, und das war ein erstmal ganz berührender Augenblick, ich komm gleich drauf warum ich das erzähle, und man schaut dieses Tier an, das hat einen Kopf, so gross wie ein menschlicher Kopf, und der Panzer so gross wie, naja, so ein Ofen oder Kühlschrank, ein grosser Kühlschrank, und ich hab diesem Tier in die Augen geschaut und gedacht: Der will natürlich der Letzte seiner Art sein, der will sich gar nicht fortpflanzen.

Und: Lonesome George hat etwas begriffen. Dieses Tier hat es begriffen, dieses Tier will nämlich nicht: Schwimmen gehen, dieses Tier will nicht, wie nennt man das: Die Freizeitangebote wahrnehmen, dies Tier will nicht in irgendeiner gemähten Parkanlage spazierengehen. Dieses Tier hat etwas verstanden. Dieses Tier will nämlich nicht mitmachen.

Jetzt könnte man sagen, dass ein Tier nicht denkt, aber wenn man vor diesem Tier steht und weiss: Dieses Tier isst im Schnitt 5 Kilo Salat am Tag und bewegt sich ungefähr 5 Meter fort, und das seit 157 Jahren—man kann sich einfach nicht vorstellen, dass ein Tier 157 Jahre im Schnitt am Tag 5 Meter geht und 5 Kilo Salat isst und nichts denkt.

Und das ist vielleicht das Irre, vielleicht ist es ja auch so, dass Lonesome George, diese Schildkröte, seit 157 Jahren, nicht nichts denkt, sondern einen Gedanken anfängt zu denken und aber nicht zu Ende kommt. Also wie so eine Welle, die sich aufbaut, aber niemals bricht; dass die so Wasser nachsaugt [atmet ein], wie so ein Kreislauf, der aber nicht zum Ende kommt.

Und als ich diesen Gedanken hatte, haben sich meine gesamten Worte auf diese Idee dieses Kreises gelegt, also, wie diese Welle, also ich bin durch die Gegend gelaufen, und alle meine ganzen Worte, oder: die Gedanken haben sich auf diese Welle, diese niemals brechende Welle gelegt wie so ein kreisförmiger Strudel war das in meinem Kopf, und ich hab, also, es war, ich bin fast verrückt geworden, und——ich hab mich gefragt, ob——vielleicht könnte Lonesome George auch sowas wie ein Vorbild sein für uns. Dass dies Tier——

Weil man sich immer hinstellt, oder weil auch in der Politik die Leute sich immer hinstellen und sagen: So, wir wissen wie es geht, wir haben den Gedanken zuende gedacht, wir werde jetzt das und das tun, aber dass es vielleicht viel schöner wäre, zuzugeben, dass man einen Gedanken gar nicht zuende denken kann, und vielleicht auch nicht soll; dass das vielleicht besser ist, und vielleicht könnte Lonesome George, also diese Schildkröte, auch so etwas wie ein Wappentier werden für die Stadt jetzt hier oder vielleicht für ganz Deutschland. Das habe ich mir so überlegt.”


Huldigendes, nichtauthorisiertes Transkript aus Kamerun, S. (2006) Ein Menschenbild, das in seiner Summe null ergibt; Hörspiel. Köln: Westdeutscher Rundfunk.


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Monday, April 21, 2008

Classics of Camp (IV): 1. Oswald-Spengler-Symposium 1966

«Es war ganz furchtbar. Die beiden hatten seit längerem nichts mehr gesagt, sprachen weder miteinander noch mit mir. So saß ich da, und fragte mich wie es weitergehen könnte mit dieser Reise.

Hier saß ich mit zwei alten Männern, der eine fast ein Greis und der andere zehn Jahre jünger. Jünger. Also, ich meine, Jünger war auch der jüngere. Es klingt jetzt alles sehr kompliziert. Benn hieß der eine, er war gerade achtzig geworden. Ein schwerer, auch kranker Mann. Er schaute immer so aus seinen halbgeschlossenen Lidern hervor, als würde er jede Sekunde einschlafen. Das Gegenteil war aber wahr, er roch und spürte alles um ihn herum, und es war schwer, eine Zigarette aus dem Jackett zu holen, ohne dass er nicht sofort auch nach einer fragte, noch bevor man sie sich angezündet hatte.

Wir waren hierher gefahren, weil er kürzlich zu etwas Geld gekommen war, die Kulturschaffenden hatten sich noch einmal, erneut, im Vorfeld des achtzigsten Geburtstags seiner angenommen. Einige Verleger, ängstlich nichts zu verpassen, hatten sich also mit Vorschussangeboten für eine Art dritten Teil zur “Doppelleben”-Autobiographie überboten. (“Trippelleben, mit drei l, oder Triptychon; Day Tripper, vielleicht” witzelte der notorisch zu läppischen Späßen aufgelegte Jünger.) Ich glaube heute, Benn hat nicht eine Sekunde daran gedacht, jemals auch nur eine Zeile dafür zu schreiben, also auch nur eine Sekunde seiner verbleibenden Lebenszeit für solch eine Lappalie zu verplempern. Aber von dem Geld fuhren wir alle erst einmal in den Urlaub. Der gebrechliche Benn selbst hatte für das milde Klima des Mittelmeers im Frühherbst plädiert; und weder ich noch die anderen hatten dem Wunsch des Alten nicht nur nichts entgegenzusetzen, im Gegenteil deckte es sich mit meinem Wunsch nach gänzlich anderer, aber noch europäischer Luft.

Ich ließ also die beiden Alten dort sitzen, erstmal, die wirkten ja nicht wirklich unglücklich, nur etwas unsynchronisiert. Vielleicht war es einmal mehr so gewesen, dass Benn Jüngers Litanei nur noch durch Vortäuschen eines Wachkomas zu stoppen gewusst hatte und jetzt nicht wusste, wie er aus dieser Nummer wieder heraus käme. Also schwiegen sie. Eher für Dritte unangenehm.

Ich ging den schmalen Weg zurück zum Haus. Ich musste aufpassen, die schmalen Stufen genau zu nehmen und dabei nicht zu nah an die Disteln links und rechts des Weges zu kommen, weil es sehr stach am Bein. Da fragte ich mich auch, wieso die alten Herren sich nie beschwerten auf diesem etwas mühsamen Weg zwischen dem Haus und der Veranda mit Blick über die Hügel der Küste und das Meer. Heulsusen waren sie beide keine.

Wir waren seit fast zwei Wochen hier, zehn Tage vielleicht, und es gab keinen Grund in Panik zu verfallen. Das Stierlein, wie Jünger seine Frau allen Ernstes nannte, war uns bis jetzt die beste Unterhaltung gewesen, die es geben konnte, wenn die beiden Alten gerade einmal nicht miteinander sprachen, so wie jetzt, oder beide nicht zu Späßen aufgelegt waren. Nun war Frau Jünger aber bereits abgereist, ich hatte sie des Morgens zum Bahnhof gebracht. Ich glaube, ihr Mann spürte genau, dass es mit dem Benn zu Ende ging, also wollte er noch bleiben und dabei sein, vielleicht ließe sich etwas schreiben, falls man bei Benn am Totenbett zu sitzen käme.

Und nun saßen da unten zwei zuhause so halbherzig verfemte alte Männer, der eine duldete den anderen, der andere verehrte den einen, und mir war nicht so wohl zumute. Ich weiß auch gar nicht, wenn ich so darüber nachdenke, wieso ich dort dazwischen geriet damals. Die Atmosphäre konnte sich verdüstern nun ohne das leichte, alles tragende Element, wie es Frau Jünger so formidabel dargestellt hatte. Egal; es war wie meist, wenn Freunde kommen und gehen, es ist unklar wie es weitergeht, aber die Veränderung mag auch ganz gut tun. Für morgen war bereits ein neuer Gast angekündigt, und ich zumindest war gespannt, wie sich die feine Stimmung unserer kleinen Bildungs- und Erholungsreise noch entwickeln würde.»



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Saturday, April 19, 2008

Sadness, in happy times

—In honour of the magician B.J.A., * 19. April 1942


«With disappearance will always come the hope of reappearance. At the same school was the son of John Stonehouse, the British Labour Member of Parliament who left a pile of his clothes on Miami beach in 1974 to stage his own suicide. A minute’s silence was held in the Commons and his obituary was published. Australian detectives, acting on a tip-off that Lord Lucan had at last surfaced in Melbourne, inadvertently came across Stonehouse living under an assumed name. He had reappeared. […]

Icarus, blinded by the elation of his ascent, failed and fell: fell to fail. His was a journey up that came down. […] But for Bas Jan Ader to fall was to make a work of art. Whatever we believe or whatever we imagine, on a deep deep level, not to have fallen would have meant failure.»

Excerpt from Tacita Dean: And he fell into the sea.


Friday, April 18, 2008

Und meine Seele legte eng ihre Flügel an

Jet Lag. Verschiebung. Lag ein Fachausdruck, für Autokorrelations-Berechnungen. Gerade diese ist es, die Übereinstimmung mit sich selbst, in leichtem Zeitversatz (Lag 0, 1, –2), die einem durcheinandergerät durch das unvernünftig zu nennende Reisen im Geschoß. Ernst Jünger, der selbst Anfang der dreißiger Jahre den Menschen in seiner minotaurischen Verschmelzung mit dem Fluggerät zum Torpedo besang, fragte sich 50 Jahre später völlig zu recht: Welches Horoskop hat ein Menschenkind, das dort oben, darin, bei 560 mph und auf 33,000 fT dahinschiessend geboren wird?




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Thursday, April 17, 2008

The city has a sound, finally

Olaf Schäfer, this month’s interviewee at the WALL OF TIME, has brought his Metrophonie No. 1 online as a hypertext, which it is anyway. Kick back and tune in.

Olaf Schäfer, unser Gesprächspartner diesen Monat hier an der ZEITMAUER, hat eine Online-Version seiner Metrophonie No. 1 verfügbar gemacht als Hypertext, der sie ohnehin ist. Zurücklehnen und Sich einlassen.

Tuesday, April 15, 2008

In search of the miraculous for 33 years now

In April 2008, while the persona writing here strawls the poster aisles of a monsterous cognitive neuroscience conference in California, the ghosts in the machine bring you a short update on the miracle of shared lifetime:

I had been under the impression for a long time now that former Californian by choice and WALL OF TIME’s beloved artist, Bas Jan Ader, who disappeared while performing the second part of his trilogy In search of the miraculous, had embarked onto his eternal sailing trip in March 33 years ago, but it was not before July 9th 1975, apparently.

This makes for definite three months of shared Earthly life time between Ader and a neonate in Southern Germany; maybe more, as we will never learn when or if he died. Also, his boat was found on what happened to be my first birthday:

“Ader took off on July 9, 1975; three weeks into the voyage, radio contact failed. His brother, Erik, reported the following: ‘On about April 10 [1976] a Spanish fishing trawler found his boat about 150 nautical miles west-south-west of Ireland. It was two-thirds capsized, with the bows [sic] pointing down. Judging by the degree of fouling, it looked as though the boat had been drifting around in this position for about six months.’”

Ader was born in the Netherlands on April 19, 1942. As quisquilia on the side, Ronald Reagan apparently reported for active duty also on April 19, 1942, to the west of Ader’s birthplace, while to the east, 5,000 Jews were moved to the Majdan-Tatarski ghetto situated between the Lublin ghetto and a Majdanek subcamp, which was established that very day.

Shared lifetime makes me fluster.

Ader would have turned 66 on April 19 this year. As we speak, Bas Jan Ader has now been a ghost of the oceans quite exactly as long as he had inhabited the land before: 33 years on either side of this decisive sailing trip, which he embarked on in 1975.



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Monday, April 14, 2008

Offenen Auges

San Franscisco. Man kann nicht über San Francisco schreiben, ohne über Leben auf der Strasse zu schreiben. Man kann deshalb auch nicht über San Francisco schreiben, ohne über ein in höchstem Maße idiosynkratisches, das heisst hier: meist psychotisches Geistesleben zu schreiben.

Immer, wenn ich hierher komme, alle zwei Jahre, sind die Strassen des immer fast unangenehm sauberen Financial District bevölkert, be-lebt von hochindividualisierten, ausdrucksstarken Mutationen des Grossstadtlebens; Menschen, die in anderen Welten leben, die in ihrer eigenen Welt leben. Vermutlich trifft diese Beschreibung, in dieser Allgemeinheit, auf uns alle zu. Aber die wenigsten zeigen es so ungehemmt uns anderen, zuviel Restriktion, soziale Anpassung, die das gemeinsame Leben ja auch sehr angenehm erleichtern.

Aber hier, im El Dorado der sogenannten Deinstitutionalization—wo man also schon vor zwanzig, dreissig Jahren konsequent psychiatrische stationäre Einrichtungen aufzugeben begann, zugunsten eines vielleicht liberalen, vielleicht damals fortschrittlichen, ganz sicher aber billigeren dezentralen Betreuens von psychisch Kranken, hier sammeln sich die ver-rückt-esten Exemplare aus Gottes Garten. Natürlich betreut sie niemand, sie leben einfach hier, übernachten auch tagsüber in selbstgebastelten Festungen aus Müll.

Keine Gesellschaft ist dies, in der dem Narren wie einem Heiligen gehuldigt würde; und so leben die meisten von ihnen ein Leben, das vom Stuttgarter, Berliner oder Londoner obdachlosen Trinker nicht sofort zu unterscheiden ist. Ein wenig abgeranzter aber doch die Kleidung, etwas wilder, agitierter der Blick, noch länger die Zehennägel, die aus zu Sandalen umgenutzten Turnschuhresten schauen. Man schaut sich um und weiss nicht recht, geht es ihm schlecht?, hält er mich für einen Dämon?, oder ich ihn?, wie lang lebt sie schon hier?, war er im Vietnamkrieg?, war er 20 oder 24 als man ihm einmal, vielleicht irgendwo in einem Provinzhospital im mittleren Westen die Diagnose “hebephrene Schizophrenie” mitgab?

Heute, heute jedenfalls ist diese Stadt undenkbar ohne die Heerscharen von Anders Denkenden, deren Anderssein untrennbar verbunden ist mit ihrem Anders Leben, auf den Strassen, ironischerweise genau dort, wo dieselbe Stadt sich so sinnlos, vollkommen frei von echter Bestimmung, nur noch sich selbst spielend, herausputzt und Umtriebigkeit vortäuscht. Ich gehe zurück ins Hotel, stelle die Abercrombie & Fitch Einkäufe ab, lege die neue Brille auf den Tisch, nehme das teure Macbook Pro aus dem Safe, und denke: Ein anderes Leben findet statt, jeden Tag, jede Minute.

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Friday, April 11, 2008

160 characters of art in exile: Somebody seems to like our style

Over at our friends from I LIKE MY STYLE, the only social network one should be bothered becoming a member of, Überstylist Adriano Sack gives WALL OF TIME’s 160-characters of art project a nod.



Well, admittedly, THE WALL OF TIME and our 160-Characters-of-art squad were not totally un-instrumental in making this nod happen in the first place, as you may have guessed—but it’s all about eternal self-referential feedback loops and mutual respect (for I LIKE MY STYLE, in that case) anyway. Go, Adriano.



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Thursday, April 10, 2008

33


Thirty-three years is a long time. It makes for, roughly speaking, 52 × 33 Thursdays. Thursdays on which wars have been waged, girls have been courted, boys have been whipped in schoolyards, wifes have been abandoned, pets have been fed, unsolicited manuscripts have been rejected, contracts have been made. On one of these thurdays, the first in this arbitrary series, I was born, on another, I begin my thirty-fourth year of life, in ever-widening circles, around the primordial tower.


Dreiunddreissig Jahre sind eine lange Zeit. Sie ergeben, grob gesprochen, 52 × 33 Donnerstage. Donnerstage, an denen Kriege vom Zaun gebrochen, Mädchen umgarnt, Jungs auf dem Schulhof verprügelt, Ehefrauen verlassen, Haustiere gefüttert, unangeforderte Manuskripte abgelehnt, Verträge geschlossen wurden. An einem dieser Donnerstage, am ersten in dieser arbiträren Reihung, wurde ich geboren, an einem anderen beginne ich mein vierunddreissigstes Lebensjahr, in stets wachsenden Ringen, um den uralten Turm.

Wednesday, April 09, 2008

Time traveler’s wisdom: Olaf Schäfer Interview (Deutsche Version)



—von Jonas Obleser für walloftime.net

Eine durchgehend vertretene Grundannahme hier an unserer WALL OF TIME besagt, Klang existiere nur in der Zeit, die Zeit ermögliche den Klang überhaupt erst. Das macht Klang und Zeit, zumindest im Kopf des Hörers, zu eineiigen Zwillingen. Der Raum hingegen, und dessen Kultivierung – nämlich die Architektur – wird meist als zeitunabhängig, als rechtwinklig zur Zeitachse verstanden. Was aber geschieht, wenn uns klar wird, dass dies nicht die ganze Wahrheit ist und wir allmählich verstehen, wie Raum und Architektur unser Empfinden der am stärksten zeitabhängigen Sinneswahrnehmung formen: der Wahrnehmung von Klang? WALL OF TIME ist überaus stolz, als zweiten Interviewpartner einen der wenigen bedeutenden Experten auf diesem Feld gewinnen zu können, den gelernten Architekten, Zimmermann, Musiker und Autor OLAF SCHÄFER.

Schäfer, Jahrgang 1974, lebt heute in Berlin und hat gerade den ersten Sound Studies-Studiengang 2006–2008 an der Universität der Künste mit dem Mastergrad abgeschlossen. In seiner Architektur-Diplomarbeit wie auch in weiteren Projekten verfolgt er einen Weg (vielmehr eine Schnellstraße), den Marinetti, Russolo und andere Futuristen im frühen 20. Jahrhundert erstmals beschritten: Welche Folgen hat das neue, tönende Waffenarsenal unserer Maschinen, unserer Motoren, unserer Städte? Wie wirkt es sich auf unsere Städte aus, dass all die entstehenden Klänge keine Beachtung finden, dass sie ignoriert werden, vernachlässigt und kaum nutzbar gemacht?

Letztlich lautet die Frage – und das bringt uns zu Schäfers eigenwilligstem, radikalstem und zugleich einflussreichsten Anliegen: Wie können wir Klänge auf logischere, natürlichere Weise, zu unserem sensorischen und psychologischen Vorteil in die Gestaltung unserer Einrichtungsgegenstände, die Bauweise unserer Häuser und Städte einfließen lassen? Nur halb im Scherz schloss Schäfer 2004 sein erstes Manifest mit dem germano-englischen Kampfschrei: „Ringt mit den Straßenbahnen, kämpft um jeden Groove. Remix Berlin! Dub Stuttgart!“



Olaf, danke für deine wertvolle Zeit. Wie du weißt, ist eine Konstante unserer Publikation, gewissermaßen ein Axiom, dass Zeit Voraussetzung für Klang ist. Nun kommst du ja aus einem denkbar statischen Feld, der Architektur. Sicher fühlst du dich manchmal uneins mit deinen Kollegen, wenn du dich darauf konzentrierst, ein völlig gegensätzliches Feld – sich ausbreitende Schallwellen – unter Kontrolle zu bringen. Allgemein scheint es, als wolltest du mehr Aufmerksamkeit auf Klang als ästhetische und leiblich erfahrbare Größe lenken, wenn es um die Gestaltung von Gebäuden, Straßen und öffentlichem Raum geht. Betrachtest du dich selbst noch als Architekt im ursprünglichen Wortsinne, und wenn ja: Glaubst du, dass hierzu die Tätigkeit eines Architekten neu definiert werden muss?

Zunächst einmal vielen Dank für dein Interesse an meiner Arbeit, Jonas. Ich bin sehr erfreut, wenngleich auch unsicher, ob meine Gedanken etwas zu deinen Konzepten an der Zeitmauer beitragen können. Wie du bereits sagtest, befasse ich mich als Architekt mit Raum, was man als Gegensatz zur Arbeit mit der Zeit ansehen kann.
Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht wirklich, was die Arbeit eines Architekten in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes war. Es kommt aus dem Griechischen, von archein tekton, was soviel bedeutet wie „Oberster Handwerker“. Er war, denke ich, eher ein Moderator als ein Künstler – ich gehe beispielsweise nicht davon aus, dass er die Ornamente des Parthenon-Fries gemalt hat, vielmehr glaube ich, dass die Detailarbeiten an verschiedenen Gebäudeteilen – zur Zeit der Entstehung des Wortes – die Aufgabe untergeordneter Kunsthandwerker waren.

Daran würde ich den ersten Teil meiner Identität als Soundarchitekt festmachen: Obwohl ich ausgebildeter Musiker bin, arbeite ich nicht als Musiker, ebenso wie mich fundierte Technikkenntnisse nicht darauf beschränken, Spezialist für akustisches Bauen zu sein. Um jegliche Vorstellung davon zu unterhöhlen, was ein Architekt in Bezug auf die klangoptimierte, künstliche Landschaft ist, sollte man sich vielleicht jemanden vorstellen, der weder unabhängiger Komponist (der Architekt als Autor) ist, noch Musiker (oder Zimmermann), noch Dirigent.

Aus meiner Sicht trägt ein Soundarchitekt Teile dieser unterschiedlichen Persönlichkeiten in sich, ist aber am ehesten mit einem Dub-Engineer am Mischpult zu vergleichen, wobei die gebaute Umwelt selbst das Mischpult ist. Jeder Akt der Planung erstellt einen Dub der Straße.

Aber das ist nur der Teil der Definition, der wiedergibt, was ein Architekt tut, und nicht, was passiert, wenn ein Architekt tatsächlich Architektur macht. Das wäre eine vollkommen andere Bedeutung von Architektur.

Okay, vermutlich sollte ich also weiter der Tatsache nachgehen, dass du eine Abgrenzung implizierst zwischen dem, was ein Architekt ist, und dem, was er tut, wovon ich annahm, es sei schlicht und einfach Architektur. Es scheint, als würdest du klar zwischen deiner praktischen Arbeit als Architekt und der theoretischen Bedeutung der Architektur trennen. Kannst du uns einen Eindruck dessen vermitteln, was passiert, wenn ein Architekt tatsächlich Architektur schafft?

Für mich geht es weniger um den Unterschied zwischen Theorie und Praxis, sondern vielmehr um jenen zwischen Erschaffung und Wahrnehmung von Architektur. Während die Erschaffung Teil meines professionellen Umgang mit Architektur ist – und auch die Ausbildung eines Architekten ausmacht – ist die Wahrnehmung ein subjektiveres Unterfangen, das für Architektur aber notwendig ist. Ohne die Wahrnehmung würde sie nicht existieren.

Der Raum ist in der Architektur meiner Meinung nach die Gesamtheit möglicher Wahrnehmungen. Und diese Gesamtheit – oder, wenn man unsere verschiedenen Sinne berücksichtigt, diese Gesamtheiten – sind nach außen hin abgegrenzt. Die Mauer, die deinen Arbeitsbereich bestimmt, kann beispielsweise von deinen Augen oder deinem Körper nicht durchdrungen werden. Sie schränkt also deine möglichen Wahrnehmungen ein. Analog dazu kann eine vielbefahrene Straße eine Mauer aus Klängen sein, die es dir unmöglich macht, die Kinder auf der anderen Straßenseite spielen zu hören. Du kannst sie vielleicht sehen, aber du hörst sie nicht.

Kurz gefasst bedeutet Architektur für mich, Grenzen zu definieren, die die Umwelt teilweise oder sogar ganz von uns abschotten und eine neue Umwelt entstehen lassen, die Reyner Banham sehr treffend als „wohltemperierte Umwelt“ bezeichnete: Einen „Innenraum“, der die neue Reichweite unserer Sinne verkörpert. So betrachtet, erschafft Architektur eine visuelle, auditive und olfaktorische Landschaft und erlaubt uns, die Atmosphären dieser Landschaft durch den Raum dazwischen wahrzunehmen.

In deinen Werken, die vielen Lesern vielleicht noch unbekannt sind, beschreibst du oft Szenarien und Räume wie beispielsweise deine Wohnung, Außentreppen, offene Fenster, Bäume, Blätter. All dies scheint nötig, um die Voraussetzungen für die akustischen Empfindungen deiner Person oder des Erzählers in einem derart leicht vorstellbaren Szenario zu schaffen. Die Klänge selbst hingegen bleiben im geschriebenen Text außen vor, bleiben gewissermaßen stumm. Du scheinst mit Vorliebe über Sound zu schreiben. Obwohl man von einem Klanggelehrten wie dir, der umfassendes Wissen über Mikrofonierung, Physik, Klanginstallationen und dergleichen hat, viel eher eine Audio-Aufnahme erwarten würde, greifst du auf eine sehr poetische, fast träumerische Sprache zurück, um damit über Fragen des Klangs zu schreiben.
Hat die jahrelange Ausbildung in Raumakustik, Musik und Klangforschung dein Vertrauen in die technische Konservierung des Klangs eher geschwächt und aus dir stattdessen einen Dichter im Sinne Hölderlins werden lassen?

Schwierige Frage. Zunächst möchte ich dich aber korrigieren und anmerken, dass es für mich nicht um das Konservieren von Klang geht. Ich kenne auch keine Architekten, die Backsteine sammeln, abgesehen von einem seltsamen französischen Postboten Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Zielsetzung meiner Arbeit ist es, die Kommunikation über einen recht komplexen Vorgang zu ermöglichen, der viele Menschen – insbesondere die Bewohner – über einen langen Zeitraum hinweg betreffen wird. Es ist eine Konversation über Klang, und es ist jedes Mal wieder anstrengend, die jeweils angemessenste Sprache zu finden.

Um die Frage nach dem, was du Poesie nanntest, zu beantworten: Für mich ist diese Arbeitsweise nur temporär, provisorisch. Als Architekt macht sie mir natürlich zu schaffen, denn ich habe immer schon Pläne skizziert und Modelle gebaut. Aber will man die Atmosphären, die man selbst erlebt oder die zukünftig erlebt werden sollen, ausdrücklich benennen, stößt die gewöhnliche visuelle Kommunikation in der Architektur an ihre Grenzen – verständlicherweise, wenn es um Klang geht. Letztlich möchte ich aber Raum und Klang selbst schreiben, und nicht bloß über sie.

Also ergab es sich eher zufällig als planvoll, dass du auf eine subjektivere, dichterische Sprache zurückgegriffen hast, ich verstehe …

Nein, nicht wirklich. Ich wollte vorrangig die visuellen und auditiven Empfindungen in einem Medium vereinen. Das war für mich das Schreiben, das zum Beispiel im Gegensatz zum Film verhindert, dass Sehen und Hören um die Aufmerksamkeit wetteifern.

Unsere Sprache ist ein eigenständiger Sinn, der sich von den anderen unterscheidet. Wie du hoffentlich auch selbst schon erleben konntest, lässt Literatur dich Stimmungen, Bilder und Klänge empfinden, ohne dass du sie im eigentlichen Sinne siehst oder hörst. Als Leser wirst du dann vom Autor geführt, treibst durch innere und äußere Welten, die Zwischenräume, durch verschiedene Arten der Wahrnehmung und durch Gedanken, die mit der gleichen Genauigkeit wie technische Beschreibungen erklären, worum sich alles dreht.

Aber bedeutet das nicht auch, dass ein geschriebener Text genauso zeitgebunden ist wie Musik? Ein fortwährender Fluß, der auch im Widerspruch zur räumlichen Erfahrungswelt stehen kann?

Ja, man könnte glauben, dass das Lesen eines Buches – ein Wortfluss, der durch das Auge des Lesers strömt – gleichwertig mit dem Hören von Musik ist, bei dem die Ohren konstant von Tönen umspült werden. Aber der Klang der Musik ertönt im Jetzt des Hörers und ist nicht in der Lage, ihn in eine andere Zeitebene zu versetzen. In der Musik gibt es kein Vorher nach einem Jetzt, zu dem man zurückgehen könnte, sie erzählt also eine unumkehrbare Geschichte, während unsere Sprache bereits mehrere Zeitebenen mit sich bringt. So lässt sie einen Zeitrahmen entstehen, der unabhängig von dem des Lesers ist.

Im besten Falle ist mein Schreiben ein metrophonisches Driften durch verschiedene Wahrnehmungsweisen. Aus diesem Grund suche ich nach einem polyphonen Text, der wie ein architektonischer Grundriss gelesen werden kann. Das bedeutet: Es gibt keinen Anfangs- und Endpunkt, deine Augen und Ohren setzen vielmehr die ganze Geschichte des Raumes frei und beinahe willkürlich zusammen. Derzeit arbeite ich an einem Projekt, das aus Text, Plänen, Sprache und Klängen in einem locker verwobenen, szenographischen Gesamtbild besteht.

Dieses Bestreben spiegelt sich auch schön darin wieder, wie aufwändig das Design deiner Arbeiten und Essays ist. Ich meine, du achtest nicht nur auf grafische Gestaltung, du entwickelst auch wirklich interessante Verpackungen, für die du auf eine Ästhetik aus technischen Zeichnungen oder Bauplänen zurückgreifst. Ist das eine Grundvoraussetzung für deine Texte, oder kann dieses angesprochene Gesamtbild auch als profanes Taschenbuch funktionieren?

Im Hinblick auf die Vermarktung der Arbeiten sollte es wohl heißen: „Ja, sie funktionieren auch im Buchformat!“ Aber das tun sie sicher nicht. Wie bereits gesagt, sollte es ein Dahintreiben durch unterschiedliche Schichten sein, kein einfaches Lesen, Seite für Seite. Das Planformat der einzelnen Seiten mag zwar unhandlich sein, aber ich glaube, so gleicht das Leseerlebnis viel eher dem Lesen einer Karte, die einen durch den Raum leitet.

Zum Thema Autos und Straßengeräusche: Deine Arbeit bezieht sich oft auf die Anfänge des Futurismus; unlängst hast du dich in einem Magazinbeitrag (Atlas 31, la citta suonante) auf kreative, klangorientierte Weise mit der unsäglichen Debatte über die Dresdener Waldschlösschenbrücke befasst. In deiner neuesten Arbeit, Metrophonie No 1, betrachtest du das deutschlandweite Autobahnnetz als überdimensionale Sound-installation, deren Klang wir leider nicht zu hören imstande sind, weil wir dafür hoch über dem Land schweben müssten. Ebenso beschäftigst du dich mit der berühmten avus und schlägst vor, aus ihr ein Freilichtmuseum zu machen, in dem Gäste auf den alten Zuschauerrängen sitzen (die in deiner Begriffswelt Zuhörerränge wären?) und der tosenden Schnellstraße vor ihnen lauschen könnten.
Wie wirken sich Autogeräusche deiner Meinung nach auf uns aus? Sollten sie weiter eingedämmt werden? Oder siehst du möglicherweise eine ästhetische, gar angenehme Rolle, die dieser oftmals verteufelte Lärm in unserem Leben übernehmen könnte?

Stell dir einfach vor, die Sonne wäre nicht das Gestirn, das uns Licht und Wärme gibt, sondern La Monte Youngs brummendes Klanggestirn. Wenn man nichts mehr sehen könnte, wenn man nur einen nie endenden Klang von oben und dessen Widerhall von unten und von der Seite hören könnte, würden wir irgendwann wie Fledermäuse durch die Straßen schwärmen. Wir würden selbst keine Töne von uns geben, sondern diejenigen nutzen, die bereits vorhanden sind. Doch die Evolution hat einen anderen Weg gewählt. So haben wir zwar heute dieses permanente Dröhnen auf unseren Straßen, aber unser Gehör hat sich noch nicht daran gewöhnt. Wir können die Ohren nicht wie die Augen schließen, und das wird sich in naher Zukunft wohl auch nicht ändern.

Deswegen halte ich es für an der Zeit, räumliche Klangfilter zu bauen, die gesamte Stadt künftig als eine Filterbank zu betrachten, die oszilliert und resoniert.

Beziehst du dich dabei auf die Stadt als architektonische Struktur oder auf die Stadt als Lebensraum, also auch inklusive ihrer Einwohner und anderer Entitäten darin?

Eigentlich auf beides, aber auf getrennte Art und Weise. Da hilft es nochmal, sich [den Paten des Dub] Lee Scratch Perry am Mischpult vorzustellen. Das Mischpult und die Patchbay mit ihren Schaltungen und Effekten sind ähnlich der gebauten architektonischen Struktur und Infrastruktur. Sie definieren, in Grundrissen wie in Schaltplänen, die Leitungen und Wege, die von den Klängen durchflossen werden. Was dann aber wirklich klingt ist ja nicht das Mischpult, die Metropole, sondern die Menschen und all die Sachen, die diese machen. Autofahren, U-Bahnfahren, Musik hören, schreien, et cetera. Und all das ist nur bedingt vom Dubmaster definiert.

Zum Mix, zur Mischung gelangen die technische Struktur und die menschgemachten Schallsignale dann im Raum, in dem aktiv Orte definiert sind, an denen bestimmte Klänge entstehen. Andererseits aber die Akustik dieser Orte wiederum passiv darauf reagiert, und je nachdem mit absorbierendem, reflektierendem oder zerstreuendem Charakter die Klänge transformiert.

Deswegen komme ich auch so oft auf den Futurismus zurück, besonders auf Marinetti und Russolo. Letzterer forderte schon vor fast hundert Jahren, Geräusche als Rohstoff zu nutzen, und sie in eine geformte Klangumwelt zu überführen. Das wurde nie in dem Maße umgesetzt, in dem es erdacht wurde, und inspiriert mich darum auch heute noch. Stell dir eine vielbefahrene Straße in der Stadt vor, deren Fassaden nicht aus Stein, Stahl und Glas bestehen, sondern aus einem Meter dickem Schaumstoff. Das wäre eine völlige Veränderung.

Beschreibe uns bitte, wie das klingen würde.

Das war nur ein angedachtes Szenario. Stell dir die Stille einer Stadt vor, nachdem im Winter Schnee gefallen ist, so ähnlich könnte das sein. Solche Manipulationen wären nur ein erster Schritt dazu, den Sound der Straße durch Regler, Feinjustierungen und Transformationen zu einem zusammenhängenden, metrophonischen Klangbild zu machen. Wie das im Detail klingt, hängt natürlich von der jeweiligen Situation und ihren Klangquellen ab. Wir werden sehen, wann wir die erste klanglich gestaltete Stadt haben.

Genauso wie wir hier an der Zeitmauer scheinst du gerne mit der faszinierenden Vorstellung zu spielen, den ursächlichen Zeitfluss umzukehren, und damit das Abstrahlen und Verfliegen des Klangflusses. In deiner neuesten Arbeit, der Berlin Metrophonie, beschreibst du den Besuch einer Soundinstallation, und wie das kritzelnde Geräusch eines Stiftes deine Aufmerksamkeit auf sich zieht und du das Gehörte getreulich im Geschriebenen festhalten möchtest – genau entgegengesetzt zum eigentlichen Weg der Klänge, wie wir sie von einer Vinylschallplatte abspielen –, dass es für andere durch Auslesen wieder abhörbar wird. Diesen Abschnitt sollten wir wohl zitieren, um seinen Zauber zu vermitteln:


“Hier hatte jemand mit allerhand technischen Gerätschaften diese Wohnung ausgestattet, und da, wie ich auf dem Bett lag, die Leere der Zeit meditierend, hörte ich, wie sich das Kratzen eines Federhalters […] in den Räumen verfing. […] Nach einer halben Seite schwang sich das Kratzen auf; auf zu einem großen Vogelschwarm, da gleich hinter dem Türdurchgang zum Flur. Ein mächtiges Flügelschlagen, das sich erhob, endlos an dieser Öffnung vorbeizuziehen, die abgründiger wurde, je länger sie so durchklungen ward.

Die Klänge kamen von nebenan, doch aus einem Raum, den ich nie betreten können würde. Ein okkulter Raum, dem Auge verschlossen, so weit und tief man auch durch die Öffnung des Türrahmens blicken mochte. Auf meine daliegende Entblößtheit legte der unsichtbare Klang die bedeckende Umhüllung dieser Magie des Unmöglichen. Ein diaphaner Vorhang, mehr noch: Umhang, der sich vor meine rationale Erkenntnis schob. Was in dem Zimmer, in dem ich mich befand, Klänge waren, die aus gut sichtbaren Boxen kamen, waren im anderen Zimmer schon Klänge, die einer anderen Welt entströmten.

Das Flattern wollte nicht enden, und ich fragte mich, ob es womöglich sein konnte, diesen Vogelschwarm, der hier aus den Klängen einer Füllfeder entfleucht war, nicht ebenso wieder einzufangen: Wie eine lebende Neumann-Schneidemaschine, die ansonsten die Schwingung des Schalls mit vibrierender Nadel in die Mutterform der Schallplatten einritzte, nunmehr mit den suchenden Fingern einer mitschwingenden Seele die Klänge in die weiße Fläche vor mir einfließen zu lassen, und ebenso wieder auslesbar machen zu können?”

(Brief excerpt from the second movement, Metrophonie No 1, Olaf Schäfer, Berlin 2008)

Auf mich wirkt es, als wäre eine wichtige treibende Kraft deines Umgangs mit Klang dessen Vergänglichkeit, seine Unkörperlichkeit, sein flüchtiges Wesen; ganz im Gegensatz zu Steinen und Holz, aus denen wir unsere Häuser und Möbel bauen. Ist das kein riesiges Problem, wenn man Klang entwirft, beschreibt, plant? Was lässt dich trotzdem weitermachen?

Das ist eine interessante Sichtweise: Wenn du sagst, die Unkörperlichkeit des Klangs sei eine treibende Kraft für mich ist, gebe ich dir Recht und sage: Das gefällt meinem Idealismus.

Aber andererseits frage ich mich, wie lange diese bildliche Vorstellung dessen, was Materialität und/oder Immaterialität ist, noch bestehen wird. Es ist doch nur die Vorstellung dessen, was „Material“ eigentlich ist, die dich denken lässt, Klang sei immateriell. Wie ich schon beschrieben habe, ist Schall etwas Physikalisches und kann fest wie eine Mauer sein.

Durch Lautstärke und Bandbreite kann Schall so eine Dichte erreichen, dass man mit seinem Gehör nicht weiter zu einer anderen Schallquelle durchdringen kann. Ich sehe darin keinen Unterschied zu einer Mauer, die der Körper nicht durchschreiten kann oder Nebelschwaden, die für den Sehsinn undurchlässig sind. Letztlich sind das alles gewissermaßen Membranen, die beeinflussen, wie der von ihnen umgebene Raum wahrgenommen wird. Das würde ich keinesfalls Immaterialität nennen. Warum sollte ich also aufhören, mich mit Klang zu beschäftigen? Klänge wird es immer geben. Ich kann dir genau sagen, wann der Fernseher meiner Nachbarn wieder sein komprimiertes, tiefpassgefiltertes Gegrummel von sich gibt. Und es ist an der Zeit, stärker auf die unbedachten, formlosen Klänge zu achten, die Geräusche, die uns täglich umgeben, und an ihnen zu arbeiten.

Nun zu zwei Fragen, die wir in all unseren Interviews über Zeit und die ihr verwandten Phänomene stellen. Du darfst natürlich gerne kurz antworten, passen oder schweigen. Zunächst die große Streitfrage: Was ist Zeit?

Ich finde, Zeit ist überbewertet. Wieso nicht einfach loslassen? Vergesst die Zeit! Es ist alles nur Kopfsache. Ich habe nie viel darüber nachgedacht, und ich habe die unglücklichsten Phasen meines Lebens durchgemacht, als ich dachte, mir darüber Gedanken machen zu müssen.

Wenn ich weitergehend darüber nachdenke, würde ich sie gerne als zusätzliche Dimension einer multimodalen Wahrnehmung betrachten. Meiner anfänglichen Definition von Raum folgend, ist Zeit – auf sehr ähnliche Weise – die Gesamtheit möglicher Empfindungen, eingeschränkt nur durch eine Grenze am Lebensende.

Welche Rolle spielt Zeit bei deiner eigentlichen Arbeit, dem Beschreiben, Aufnehmen und Planen von Klängen?

Meine Antwort ist so kurz wie deine Frage: Zeit spielt in meiner Arbeit keine inhärente Rolle.

Schön gesagt, Olaf. Ich bin sicher, wer auch immer gerade unser ganzes Gespräch durchgelesen hat, wird bemerken, wieviel Olaf Schäfer in deiner letzten Antwort steckt. Ich möchte festhalten: Du bist ein wahrer Meister der Zeit und legst vielleicht genau deswegen nicht mehr viel Wert darauf, so wie auch ein Zimmermann im Schlaf nicht unbedingt vom Holz im Wald träumt.

Ha, ich wollte ja schon immer Waldarbeiter sein, mit der Betonung auf Sein. Glaub mir, es dreht sich alles darum, in den Raum zu kommen *).

Vielen herzlichen Dank, Olaf.



*) Vermutlich eine Anspielung auf und Abwandlung von La Monte Youngs “One must get inside the sound”.


Das Gespräch fand im Februar 2008 in Berlin und Leipzig statt, während Olaf Schäfer seine Metrophonie No 1 beendete. Das Bild zeigt Olaf Schäfer, 2007, photographiert von Hannes Woidich. Olaf ist zu erreichen unter olaf [at] urbanresonance.org.

Aus dem Englischen von Ralf Theil für hmbrg 4 Media, rt [at] hmbrg4.de.




All rights reserved, (c) Jonas Obleser for walloftime.net, 2008. No reproduction or re-posting without permission. For inquieries please contact time [at] walloftime.net. Interviews or some parts of it may cause offence to some people. All views expressed in these interviews represent the persons interviewed and not nessessarily the views of walloftime.net and staff.

Time traveler’s wisdom: Olaf Schäfer full-length interview (English version)



—by Jonas Obleser for walloftime.net

A notion pertained throughout all our WALL OF TIME contributions is the claim that sound only exists in time. Time is what enables sound. Hence, sound and time are, in the brains of the hearing at least, two monozygotic twins. Space, however, and the cultivation of space—architecture, that is—is mostly conceived of as something independent of or orthogonal to time. What happens when we realize that this is fundamentally flawed and begin to realize how space and architecture shape our experience of the most time-bound of our sensations, that is, our sensations of sound? WALL OF TIME is very proud to have secured as our second interviewee one of the few eminent experts in the field, the trained architect, carpenter, musician and writer OLAF SCHÄFER.

Schäfer, born 1974, is now based in Berlin and has just received an additional MA degree in the inaugural class of the UDK sound studies program 2006–2008. In his architectural diploma thesis as well as in various projects since, he has essentially followed a path (i.e., a motorway) that Marinetti, Russolo and their futurist friends laid out in the early 20th century: What are the implications of the new sonic weaponry that our machines, our motors, our cities provide? What does it do to our cities that the sounds emitted are ignored, neglected, left uncontrolled, unattended, and poorly utilized?

Ultimately—and this is where Schäfer at his most idiosyncratic, most radical and hence most influential comes in—, how can we incorporate sound more logically, more naturally and to our sensory and psychological profit into the way we build our furniture, our houses and our cities. Schäfer was only half-joking when he ended his first manifesto in 2004 with the Germano-English battle cry, “Ringt mit den Straßenbahnen, kämpft um jeden Groove. Remix Berlin! Dub Stuttgart!”



Olaf, thank you for your precious time. As you know, a constant in our publication, an axiom if you like, is the equation of time enabling sound. Now, you have a background in one of the most static arts and crafts imaginable, in architecture. You must feel quite at odds with your colleagues sometimes if you centre your own work on taming quite the opposite domain, the travelling sound waves. Generally, it seems that you want to raise our awareness for sound as an aesthetic and visceral parameter when buildings, roads, public spaces are designed.
Do you still consider yourself an architect in the original meaning of the word, and if yes, do you think this requires a re-definition of what an architect is doing?

First of all, thank you for your interest in my work, Jonas. I’m very pleased, if insecure, whether my thoughts contribute to your ideas on wall of time. You already named it, I as an architect somehow deal with space, which can be seen in opposition to working with time.

To be honest, I just don’t know what the work of an architect in its original meaning was. The word refers to the Greek archein tekton, which means head of all building craftsman. More than an artist a moderator he was, I think—I would not expect him to have drawn the ornamentation on the parthenon frieze for example, and I rather believe the detailed work of every part of the building was—at the time the original meaning of the word refers to—part of the subordinated arts and crafts.

That is where I would tie the first part of my identity as an sound architect to: Even being trained as a musician, I don’t work as a musician, just as my profound technical knowledge does not reduce me to being the specialist concerned with building acoustics. To erode any image of what an architect is regarding sound-enhanced artificial environments, you should maybe think of someone who‘s neither the autonomous composer (the architect as an author), nor a musician (or carpenter), nor the conductor. I think a sound architect carries parts of every of those multiple identities inside himself, but comes closest to the idea of a dubmaster at the mixing desk—which is the built environment itself. Every planning dubs the street.

But that‘s only the part of the definition reflecting what an architect is doing, and not what happens when an architect is actually at work. That would be architecture that has a totally different meaning.

Oh, maybe I should investigate some more in your implied dissociation of what an architect is and what he does, which I thought would be (simply put) architecture. You seem to draw a line between your practical work as an architect and the theoretical meaning of architecture. Could you give us a sneak peek into what really happens when an architect is doing architecture?

To me the difference is less between practice and theory than between producing and perceiving architecture. Whereas producing is part of my common professional approach to architecture—and this is what architects are trained in—, perceiving is a more personal subjective endeavour, but nevertheless necessary for architecture. Without perception it wouldn’t be there.

Space, in architecture, is in my opinion the field of possible perceptions. And this field—or, if you take into account the different modalities of our senses—these fields are surrounded by borders. The wall defining your workspace is such: It is one your eyes or your body cannot pass through. Simply it limits your possible perceptions. In the same way, a highly frequented street may be a wall of sound that disables you to hear the kids playing on the other side of it. You may see them, but you won’t hear them.

In short, architecture to me is to define borders which exclude parts or even the whole of an environment from us and which establish a new one—which Reyner Banham called very appropriately “well-tempered environment”—, an “inside” that is the new range of our sensorium. If you see it this way, architecture both builds a visual, aural and olfactory landscape and enables the experience of the landscapes sentiments via the space within.

In your works, which many readers might not know yet, you often describe scenarios, spaces, like your apartment, the staircases outside, the open windows, the trees, the leaves. All this is needed, it seems, to set the stage for the sonic experiences you or the raconteur is having in such an easily imaginable scenario. However, the sounds themselves remain excluded from the written text, they remain silent, if you like; you usually prefer to write about sound.Where everybody would expect a sound scholar like you to record for us, with your strong background in microphony, physics, sound installations, etc., you rather chose a very poetic and almost dreamlike language as your primary tool to approach the problems that sound poses.
Did the years of training in spatial acoustics, music and sound studies rather weaken your trust in the technical conservation of sound and turned you into a Hoelderlinian poet instead?

A difficult question. First of all I’d like to correct you in saying that to me it’s not a conservation of sound. Never heard of an architect collecting bricks, besides one freaky French postman in the mid-19th century. The aim of my work is to find a way of communication over a quite complex process which will involve a lot of people—especially the inhabitants—for quite a long time. This makes it a conversation on sound, and every single time it is a struggle to find the most adequate language for the special purpose.

To answer the question after what you called poetry, I do consider this way of how I am currently working just as a temporary, provisional state. As an architect I somewhat suffer from its conditions, because I grew up with sketching plans and building models. But if you want to explicitely name and pass on the atmospheres, which you experience or which you want prospectively to be experienced, the common visual communication of architecture is limited—understandably so, when sound is the issue. To conclude, my aim is to write sound and space themselves, and not just about them.

…So, using more subjective, poetic language means happened more accidentally than it really was what you planned for; I see …

No, not really. Above all, I decided to cast visual and audible experiences into one medium. To me it was writing, which in difference to film for example prevents the visual and aural sense competing for your attention. Our language is a sense on its own, different from the ones before. As you hopefully may have experienced yourself, literature enables you to sense moods, images and sounds, without really seeing or hearing them. You as the reader are then lead by the author, you drift through inner worlds and outer worlds, the space inbetween, through different sensual modalities or reflecting thoughts that tell you as exactly as technical descriptions what it‘s all about.

—But doesn’t this imply that written text is time-bound just like music? One continuous flow, which may be contradictory to your spatial explorations?

Yes, it seems as if reading a book—a continuous stream of words that is pouring through the readers eyes—might be equal to listening to music where the ears are constantly overflown by tones. But the sounds of music appear in the listener’s real time, and are not capable of directing you to another time layer. There‘s no Before after a Now in music you could go back to, so the story it tells lasts irreversibly, whereas our language already implies different layers of time in itself. It thus establishes a time frame independent from the one of the reader.

Ideally my writing is a metrophonic drift through sensual situations. That’s why I’m searching for a polyphonic text that can be read like an architectural plan. This means, there’s no starting or end point, but a free, nearly randomized way of your eyes and ears putting together the whole story of the space. Right now I work on a project, which involves text, plans, spoken words and sounds in a loosely linked scenographical work.

This is so beautifully reflected in the extra efforts you put into designing your theses and essays; I mean, not only that you care about graphical layout, but you really develop interesting packaging, borrowing from a technical drawing and planning aesthetic. Do you consider this essential to your text, or will your “scenographical” work also function equally well in a more profane paperback format?

With respect to marketing these works it should probably be a “Yes, they work equal in a book format”. But I’m sure they don’t. As stated before, it should be a drifting through different layers, not just reading page by page. The plan format of each page may be bulky but I believe it shifts your experience towards reading a map that leads you through space.

On cars and street sounds: Your work often returns to the beginnings of futurism; you recently contributed to a magazine (Atlas 31, la citta suonante) with a creative, sound-centered reflection upon the nerve-wrecking Waldschlösschen bridge debate in Dresden.
In your most recent work, Metrophonie No 1, you revisit the Germany-wide Autobahn network as a monstrously-scaled sound installation, the resulting sound of which we are not able to experience, unfortunately, as we would have to fly high above the land to tune in. Also, the famous avus finds your attention and you suggest turning it into an open-air museum, for people to come, sit there on the ancient spectator seats (which, by your terms, would then be—audiator seats?) and listen to the roaring motorway in front of them.
In your opinion, what do the sounds of cars do to us? Should they be further silenced? Or do you forsee, speculatively, an aesthetic and possibly pleasing role in our lives for these often demonized noise emissions?

Just imagine the big helium ball above us not as the sun that brings us daylight and warmth but as La Monte Young’s magnificent drone balls. If there wouldn’t be anything left to see but to hear a constant sound from above and its reflections from below and the side, we would eventually be swarming around in the streets like bats. Not emitting sounds ourselves but using the ones that are already there. But evolution took another way. Nowadays we have this eternal drone in the streets of our cities but our auditory system hasn’t adapted to it yet. We are not able to close our ears like our eyes, and it can be foreseen that it won’t happen in near future.

That’s why I think it is time to build spatial sound filters, to re-think the whole city as a filter unit that oscillates and resonates.

Are you referring here to the city as an architectonic structure or to the city as a habitat, that is, also including its inhabitants and other entities in it?

To both, actually, but in separate manner. Here, it always helps to imagine [the Godfather of Dub] Lee Scratch Perry at the mixing console. The mixing console and the patch bay with their wirings and effects resemble the built architectonic structure and infrastructure. They define, in ground plans and in wiring schemes, the lines and paths, which are flown through by the sounds. What then really sounds, though, is not the mixing console, the metropolis, but the people and all the things, which they do. Driving cars, riding underground trains, listening to music, screaming, et cetera. And the Dubmaster defines all that only to certain degrees.

The technical structure and the manmade sound signals then enter the mix, the mixture in space, in which places are actively defined, where certain sounds origin. In return, the acoustics of these places react passively to that, and—depending on this reaction—the sounds are transformed absorptively, reflectively or dispersively.

That is also why I often return to futurism and especially to Marinetti and Russolo. The latter demanded nearly a hundred years ago to use noises as a resource and to transform this into a shaped sound environment. This was never realised in scale and dimensions that it had been conceived of, and thus remains inspiring to me.

Think of a busy street in the city where the facades consist not of stone, steel and glass anymore, but of 1-meter thick foam. That would make for a total difference.

Please, tell us how it would sound.

The previous scenario is just a rudimentary one. Imagine the calm and silent mood of a city after snowfall in winter and you get a clue. Manipulations of that kind would just be a starting point in controlling, adjusting and transforming the street sounds into a coherent designed metrophonic soundscape. How it sounds in detail depends on the particular situation with its sound sources, of course. Let’s see whenever we’ve sound-shaped the first city.

No less than we here at the WALL OF TIME, you seem to flirt with the magical idea of reverting the causal flow of time, thus, the emitting and vaporating flow of sound. In your most recent work, the Berlin Metrophonie, you describe a sound installation that you visit, and how the sound of a scribbling pen grabs your attention and makes you want to record the heard faithfully into the written text—just opposite to the usual way of sounds as we play them from a vinyl record—, so that it will become audible for others through read-out again. I think we will have to cite this passage to get its magic across:

“Hier hatte jemand mit allerhand technischen Gerätschaften diese Wohnung ausgestattet, und da, wie ich auf dem Bett lag, die Leere der Zeit meditierend, hörte ich, wie sich das Kratzen eines Federhalters […] in den Räumen verfing. […] Nach einer halben Seite schwang sich das Kratzen auf; auf zu einem großen Vogelschwarm, da gleich hinter dem Türdurchgang zum Flur. Ein mächtiges Flügelschlagen, das sich erhob, endlos an dieser Öffnung vorbeizuziehen, die abgründiger wurde, je länger sie so durchklungen ward.

Die Klänge kamen von nebenan, doch aus einem Raum, den ich nie betreten können würde. Ein okkulter Raum, dem Auge verschlossen, so weit und tief man auch durch die Öffnung des Türrahmens blicken mochte. Auf meine daliegende Entblößtheit legte der unsichtbare Klang die bedeckende Umhüllung dieser Magie des Unmöglichen. Ein diaphaner Vorhang, mehr noch: Umhang, der sich vor meine rationale Erkenntnis schob. Was in dem Zimmer, in dem ich mich befand, Klänge waren, die aus gut sichtbaren Boxen kamen, waren im anderen Zimmer schon Klänge, die einer anderen Welt entströmten.

Das Flattern wollte nicht enden, und ich fragte mich, ob es womöglich sein konnte, diesen Vogelschwarm, der hier aus den Klängen einer Füllfeder entfleucht war, nicht ebenso wieder einzufangen: Wie eine lebende Neumann-Schneidemaschine, die ansonsten die Schwingung des Schalls mit vibrierender Nadel in die Mutterform der Schallplatten einritzte, nunmehr mit den suchenden Fingern einer mitschwingenden Seele die Klänge in die weiße Fläche vor mir einfließen zu lassen, und ebenso wieder auslesbar machen zu können?”

(Brief excerpt from the second movement, Metrophonie No 1, Olaf Schäfer, Berlin 2008)

To me, it appears as if a big driving force in your dealing with sound is its elusiveness, its immateriality, its fleeting nature; in stark contrast to the stones and wood we build our houses and furniture from. Isn’t this the biggest problem in designing, describing, planning sound? What prevents you from giving up then?

You state an interesting idea: If you say that the immateriality of sound is a driving force for me, I agree and say it pleases my idealistic mind.

But on the other hand I ask myself how much longer this visual idea of what materiality and/or immateriality is will last? It’s just your idea of what “material” is that makes you believe that sound is immaterial.

As I described it before, sound is physical, with strength up to the character of walls. Volume and spectrum can make it that dense you’ll not be able to pass through it to another sound source with your auditory system. I see no difference to a wall your body cannot permeate or fields of mist your visual sense cannot reach through. At the end they’re all kind of membranes that limit your sensual affections to the inherent surrounded space. That’s definitely not what I would call immateriality. Accordingly, why should I give up on them? Sounds will never leave. I can tell you exactly when my neighbours’ TV will start emitting its compressed low-pass filtered mumbling and grumbling. And it’s time to become more sensitive to the thoughtless and undesigned sounds, the noise that surrounds us everyday, and work on it.

Now for two questions, which we include in all our interviews on time and the phenomena around it. Please feel free to answer quite shortly or to draw, or to remain silent, of course. First, the big issue: What is Time?

I think Time is overrated. Why not just let it loose? Forget about it! It’s only a matter of mind. I never thought that much about it, and I had my most unhappy time when I thought I should have to worry about it in my life.

Upon further reflection—I would welcome Time as another dimension in multimodal perceptions. According to my definition of space in the beginning, time is—in very much the same way—the wide field of sensational possibilities limited only by a border at the end of life.

What role does time play for your primary work, that is, describing, recording, planning sound?

As short as your question is my answer. Time doesn’t play any inherent role in my work.

—Nicely put, Olaf. I am sure that whoever just has read our whole conversation will see how very Schäferian your last answer is. I would like to maintain, though, that you are rather quite a master of time and might hence not really care about it any longer, just as the carpenter not necessarily dreams of a forest when he falls asleep.

Hah, I always dreamt of being a woodsman, with an emphasis on Being. Believe me, it’s all about getting inside the space *).

Vielen herzlichen Dank, Olaf.



*) Probably a word play and a variation on La Monte Young’s “One must get inside the sound”.

Our conversation took place in Febuary 2008 in Berlin and Leipzig while Olaf Schäfer finished the Metrophonie No 1. Pictures show Olaf Schäfer, 2007, by Hannes Woidich (p. i) and by Karolina Cutura (p. iii). Olaf can be reached at olaf@urbanresonance.org.




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Tuesday, April 08, 2008

Letter to the editor

re. Ihr Beitrag Abtasttheorem vom 05. April 2008

Liebe Wall of Time,

Leider bleibt die Zeit, während das Eingelesene abgespielt wird, sich somit der Moment in einem ausdehnt, nicht stehen. Man befindet sich demnach, angenommen die Einlese- ist höher als die Abspielrate, ständig in der Vergangenheit. Läuft womöglich der Zeit hinterher.

Würde nun die Abspielrate der erhöhten Einleserate angepaßt, wäre dann das Gefühl für den Moment, welcher ja nun nicht mehr ausgedehnt wäre, nicht dasselbe wie für den ausgedehnten? Für einen Moment ist doch eher dessen Inhalt, dessen Intensität, hier also die Datenmenge, als seine Dauer, von Bedeutung. Zumal selbst ein ausgedehnter Moment, absolut gesehen, von nur kurzer Lebensdauer ist. Was letztlich von dem Moment bleibt, ist nicht die Erinnerung an sein Andauern, sondern (an) sein(en) Gehalt.

Inwiefern man den Moment länger genießen kann, sollte er ausgedehnt sein, bleibt ebenfalls fraglich. Schließlich ist man erst dabei ihn zu erleben, man weiß noch nicht was der Moment bringt. Der Moment, oder das Gefühl das dieser erzeugt, hält folglich nicht einfach länger an.

Und sollte er doch mal länger anhalten, könnte es dann nicht daran liegen, daß sich der Moment in der Wirklichkeit ausgedehnt hat? Und warum muss Ulysses immer für alles herhalten?

Ihre Sandra Weigl, Stuttgart



Apologies to our readers who prefer our English posts.

Monday, April 07, 2008

With the prisoned radiance of electric hearts

Sixteen screws per crate had to be unscrewed, by hand, that is. Somebody mentioned Marie Curie and the discovery of radium. The single parts were thoroughly wrapped and padded in plastic, as if to be shipped overseas.

I had imagined my first encounter with the Dreamachine to be somewhat different. But it turned out to be a magnificent ouverture to an impressive evening under the auspices of Aries, who brings out fine specimen, apparently, and one such specimen himself, Doctor Woodard, as well as the Dreamachine, the laterna magica, revolving stupendously at eleven cycles per second in a small cavelike rondel, called the Bergfried, behind the long banquet table.

Being familiar with the idea behind the Dreamachine, its frequency of stroboscopic light emission supposed to hook up gently with the brain’s idling state rhythm in the alpha (8–12 Hz) frequency range, I quite liked the fact that Woodard had decidedly chosen a prime-number frequency for this very exemplar:

I thought—and still think—that choosing a prime rhythm will make it the more difficult for the machine and my brain to hook up, like musicians haggling over the right groove, and I like the idea of this argument, as a kind of meta-play on the whole idea of the Dreamachine—just as the 13-year and the 17-year cicadas of Northern America avoid their predators by making an encounter highly unlikely simply through their own prime-number cycles of occurence—

All these thoughts were swarming like nervous insects behind my closed eyelids, possibly drawn towards the forceful light, as we got under friendly fire from the 200-Watt light bulb inside the copper-made revolver slash lampshade.

Also, as we sat there, Woodard and we, his guests, that night, with impressive encounters and instructive conversations all around, in front of this radiating perforated piece of metal, all of a sudden the 99-year old words of Marinetti (a constant guiding figure here at the WALL OF TIME) beautifully came to life and were filled with new, finally personal significance:

We had stayed up all night, my friends and I, under hanging mosque lamps with domes of filigreed brass, domes starred like our spirits, shining like them with the prisoned radiance of electric hearts.

Update—Another of Woodard’s guests, Momus, running of the best blogs imaginable, has also described and filmed this event.



Dieser Beitrag ist auf Englisch, doch einiges an der Zeitmauer gibt es auch in der hervorragenden Kultur- und Verwaltungssprache Deutsch zu lesen.

Saturday, April 05, 2008

Abtasttheorem

Ich bin mir jetzt endlich sicher: die sich zusammenziehende Zeit ist mir die liebste. Ich meine damit, der sich ausdehnende Moment ist mir der liebste. Bevor ich das erkläre, muss klar sein, dass ich nicht dieses halbherzige sich-in-die-Länge-Ziehen an Bushaltestellen, an Fahrkartenautomaten meine.

Vielmehr habe ich erkannt, wie weit das Herz wird, wenn die Abtastrate sich asymptotisch dem Unendlichen annähern kann, die äusserlich verstreichende Zeit damit ebenso asymptotisch dem Gefrierpunkt entgegenstrebt.

Man muss vermutlich die Besessenheit des Autors mit Problemen der digitalen Signalverarbeitung teilen, um diesen kruden Vergleich zu schätzen: Stellen Sie sich einfach vor, Ihr internes Zeit-Abspielgerät, einem iPod nicht unähnlich, spielt die Momente des flüchtigen Jetzt stets mit einer festgelegten sog. Abtastrate ab. Nun mag Ihr normales Zeitempfinden, einer typischen Audio-Datei hier sehr ähnlich, so um die 44100 Sinneseindrücke, Gedanken, Informationspäckchen pro Sekunde zurechthäufen, und Ihr 1.2 kg schwerer mitgelieferter iPod im Kopf mag so etwas üblicherweise auch mit 44100 Einheiten pro Sekunde Ihnen wieder zu Bewusstsein spülen. So weit unsere kleine Abtasttheorem-Analogie hier.

Was aber, wenn die festverdrahtete, festgelegte Abtastrate des Bewusstseins (hier einmal als Ausspielrate bezeichnet) sich einer im Gegenzug dramatisch gesteigerten Abtastrate der Eindrücke und Gedanken, hier einmal als Einleserate bezeichnet, gegenübersieht? Wenn zum Beispiel während des Falls von einem Hochhaus, und wir haben da dank eines heroischen, bungeespringenden Kollegen aus den USA entsprechende Hinweise, Ihre Kapazität, Eindrücke zu erfassen und anzuhäufen, sich ins Unermessliche steigert? Wenn ich mit 80000 Sensationen meinen Bewusstseins-iPod, mit seinen sturen 44100 Datenpunkten pro Sekunde Ausspielrate, befeuere, wird diese eine Sekunde eben tatsächlich, also für mich eben fast zwei Sekunden dauern.

Ich entschuldige mich für den Tech-Sprech, doch all das schoss mir mit 300 000 Eindrücken/pro Sekunde durch den Kopf, als ich in einem Buchladen stand und eine Ulysses-Ausgabe aufschlug. Läse man dieses Buch (tatsächlich) so würde die Erlebenszeit (in diesem Falle auch: die Zeit zum Ein-Lesen des Buches) sicher sehr lange dauern—es ist ja auch sehr kompliziert, höre ich—doch die Handlung des Buchs würde am Ende doch nur einen Tag gedauert haben.

So trickst man mit der Zeit herum, und so verdichtet sich ein Moment so lange, man stopft ihn voll mit Eindrücken, man saugt alles auf, man lässt alles herein—und das meinte ich, wenn ich oben schrieb, wie ich so gerne die Abtastrate (Einleserate) gegen Unendlich streben lassen würde, um bei gleichbleibender Abtastrate (Abspielrate) die objektiv verstreichende Zeit gegen null zu drängen.

Das wird es auch gewesen sein, was ich an Nicholson Bakers Buch Die Fermate so gemocht haben könnte: Das Anhalten der Zeit, aber nicht als romantischen, reaktionären Streich, sondern als ein Ausdehnen ins theoretisch Unendliche der Eindrücke und ein Einschliessen von Allem im Jetzt. Ein Dichter saß einmal an einem längst nicht mehr mir gehörenden Esstisch, und gab zu Bedenken, dass es bei Baker doch nur um Sex gehe, und er hatte bestimmt recht, und das ist auch eine sehr andere Geschichte, aber auch sie gehört hierher; und Sie sehen, wie mühsam es ist, die Eindrücke in für Aussenstehende noch tragbarer Zeit wieder auszuspielen, einzutippen.

So bleibt der Traum des Moments, den Baker vielleicht auch beschreibt, und ein Traum, das Jetzt nicht einzufrieren, sondern es auszudehnen, aufzukochen fast, bis es verdampft, und all die einströmenden Informationen, Gerüche, Worte, Gedanken sich verflüchtigen in das All eines immerwährenden Moments —



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