Friday, August 29, 2008

Classics of Camp (VI): Zum Glück nicht in England

«Die Geschichte, die einzige im Übrigen, die ich kenne, sie beginnt in einer Stadt im damaligen England. Sie wissen, über dem Kanal. Es war vor dem Krieg. Also, dort war ich.

Es war ja fast wie in den Neunzigern. Nur dass die großen Kinder sehr viel Drogen in sich trugen, ganz offensichtlich. Vielleicht war das immer so gewesen, doch meine eigenen Neunziger Jahre hatten hiervon nichts gewusst, deshalb ist das nur zum Teil ein gültiger Vergleich. Auch kostete das Bier, das ich trank, das Vierfache dessen, was ich aus jenen Zeiten gewohnt war, als man die Jahreszahlen noch mit einer unschuldigen 19 begann. Doch das ist ja in Verfallszeiten meist so.

Es war alles in einem Club, so hieß das. Eine Einrichtung, in die man ging, als eine Sorte teureren, gut gemeinten Zeitvertreibs. Eine Einrichtung, die, etwas antiquiert, noch dem Konzept einer Art Schallwart oder DJ (von englisch: disc jockey) huldigte: Ein Mensch, oft peinlich auf das Prätentiöseste unprätentiös am Rande des Etablissements oder neben der Bar positioniert, später gerne auch weiblich, wurde dafür bezahlt, dass er das Schallerleben der Besucher mit mitgebrachten, scheinbar sorgsam ausgewählten Tonträgern und unter Einsatz einer oft sehr, sehr leistungsstarken Schaltung zur Schalldruckerzeugung aktiv gestaltete. Eine Einrichtung, in der aber eigentlich alles egal war. Eine Einrichtung auch, in der um einen herum überall schwer intoxikierte junge Männer, kaum älter als zwanzig, sich sehr einspurig und eindeutig an den verträumt (oder einfacher: weggedrogt) hüpfenden Hintern von eher jüngeren Frauen rieben. Dies geschah mit einer wirklich erwähnenswerten Mühung um Diskretion, welche angesichts des allgegenwärtigen (die Psychobiochemie dieser jungen Männer längst beherrschenden) Kontrollverlusts natürlich völlig lächerlich wirkte und bedeutungslos war.

Dass ich diese Aspekte des Clublebens hier überhaupt erwähnen kann, liegt daran, dass ich an besagtem Abend vor dem Krieg aus einer Laune heraus im Diesseits geblieben war – mit einer gewissen Absicht ließ ich einige Tagesdosen Bier aus, ich versuchte, einmal wenigstens in der Wirklichkeit anstatt in einer Schale aus Substanz und Wahn zu bestehen. Das war gar nicht einfach, aber genau deshalb kann ich Ihnen ja heute so ausführlich berichten. Und ich kann kaum in Allem, was ich zu erzählen weiß, falsch liegen. Nicht in allem; das kann nicht sein.»



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Tuesday, August 26, 2008

Sonnenuhr, Schattenuhr

In dem deutschen, erstaunlicherweise immer noch bisweilen sehr lesbaren Tagesperiodikum Frankfurter Allgemeine Zeitung beginnt mit der heutigen Ausgabe eine Kleinserie, die uns erlaubt, die Zeit wieder einmal neu und anders zu vermessen: Und zwar in Abschnitten des neuen, hier bereits angekündigten Romans Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten von Christian Kracht (Adjektive vor Krachts Namen gehen seltsamerweise nicht mehr; im Englischen wäre vielleicht ein our very own angebracht).

Lesen Sie, was Tobias Rüther dazu meint und spüren Sie doch ab morgen selbst, wie die Zeit verstreicht und es Herbst wird in den kommenden Wochen, in dem sie mit Krachts täglichem Fortsetzungsroman und seinem Protagonisten durch einen scheinbar nicht enden wollenden Krieg in eine sich nicht erklären wollende Welt reiten. Und wenn Sie einmal einen Tag verpassen: Was macht es schon, nehmen Sie es wie ein rauschgestörtes Telefonat, wie einen Zuruf aus der Ferne, oder von der anderen Seite—der Zeit?


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Tuesday, August 19, 2008

You will be happy here

Telefonat mit dem Freund in Berlin, der seit langem, viel aufrichtiger als ich, gravitätisch um den großen Dichter und Ver-rückten Hölderlin kreist, und ihm posthum hoffentlich schon bald einen wahrlich passenden Lebensraum erschaffen wird. Dabei immer die Frage, für mich: Gab es den einen Moment, gab es den, mit den Worten des Freundes, Bruch in Hölderlins Weg? Meisterlich hat dieses vielleicht entscheidende Stück des Hölderlinschen Werdens einmal W.G. Sebald in Worten gefangen:

«Und also muss [Hölderlin] wieder hinaus.Wie viele Fußreisen hat er nicht schon gemacht in seinem kaum dreißigjährigen Leben, im Rhöngebirge, im Harz, auf den Knochenberg, nach Halle und Leipzig, und jetzt, nach dem Frankfurter Fiasko, wieder nach Nürtingen und Stuttgart zurück? Bald darauf neuer Aufbruch nach Hauptwil, in die Schweiz, von Freunden begleitet durch den winterlichen Schönbuch bis Tübingen, allein dann die raue Alb hinauf und hinab auf der anderen Seite, auf der einsamen Hochstraße nach Sigmaringen. Zwölf Stunden bis von dort an den See. Stille Fahrt, über das Wasser. Im darauf folgenden Jahr, nach einer kurzen Zeit bei den Seinen, wieder unterwegs über Colmar, Isenheim, Belfort, Besançon und Lyon, west- und südwestwärts, mitten im Januar durch die Niederungen der oberen Loire, über die tief verschneiten, gefürchteten Höhen der Auvergne, durch Sturm und Wildnis, bis er zuletzt anlangt in Bordeaux. Sie werden hier glücklich sein, sagt ihm bei seiner Ankunft der Konsul Meyer, doch sechs Monate später ist er, erschöpft, verstört, mit flackerndem Auge und wie ein Bettler gekleidet wieder in Stuttgart retour. Nimm freundlich den Fremdling mir auf. Was war es, das ihm widerfuhr? Fehlte ihm seine Liebe, konnte er die gesellschaftliche Zurücksetzung nicht verwinden, oder hat er am Ende in seinem Unglück zu vieles vorausgesehen? Wusste er, dass sich das Vaterland abkehren würde von seiner friedfertigen, schönen Vision, dass man seinesgleichen bald überwachen und einsperren würde und es keinen Ort für ihn gab außer dem Turm. A quoi bon la littérature?»

[«So [Hölderlin] must leave again. He has gone on so many walking tours in his life of barely thirty years, in the Rhone mountains, the Harz, to the Knochenberg, to Halle and Leipzig, and now, after the Frankfurt fiasco, back to Nürtingen and Stuttgart. Soon afterward, he sets off again to Hauptwil, in Switzerland, accompanied by friends through the wintry Schönbuch to Tübingen, then alone up the rugged mountain and down the other side, on the lonely road to Sigmaringen. It is twelve hours’ walk from there to the lake. A quiet journey across the water. The next year, after a brief stay with his family, he is on the road again, through Colmar, Isenheim, Belfort, Besançon, and Lyons, going west and southwest, passing through the lowlands of the upper Loire in mid-January, crossing the dreaded heights of the Auvergne, deep as they are in snow, going through storms and wilderness until he finally reaches Bordeaux. You will be happy here, Consul Meyer tells him on his arrival, but six months later, exhausted, distressed, eyes flickering, and dressed like a beggar, he is back in Stuttgart. Receive me kindly, stranger that I am. What, exactly, happened to him? Was it that he missed his love, could he not overcome his social disadvantage, had he after all seen too far ahead in his misfortune? Did he know that the fatherland would turn away from his vision of peace and beauty, that soon those like him would be watched and locked up, and there would be no place for him but the tower? À quoi bon la littérature?»]

Exzerpt aus W.G. Sebald, Rede anlässlich der Eröffnung des Literaturhauses Stuttgart, November 2001; translated by Anthea Bell)

Tuesday, August 12, 2008

Letter to the editor

«Heißa, Wall of Time,
Habe über die London-Connection von Eurem Versuch gehört, eine Performance aus Versatzstücken von Kafka (“Die Elektrische”), bisschen Futurismus, Bewegungen im Raum und so, eins werden mit der Rennmaschine, plus bisschen Fauser–Bukowski-Dreckfressen-Style hinzubekommen. Und was ist es geworden? Super-profaner Radunfall, höre ich, Flosse gebrochen. Na, dann macht mal bisschen Pause, statt hier gegen die Zeitmauer zu heizen die ganze Zeit. Und, vergesst doch den alten Schmitt: Souverän ist nur, wer über seine Knochen verfügt! Gute Genesung wünscht

Thiago Rockenburg da Lopez
C.E.O. Lauter Leben GbR
Charlottenstr. 57, 10117 Berlin, Germany»

—Danke, Thiago.

Monday, August 11, 2008

Der alte Mann und die Wellen

Ein Bild drängt sich auf. Das Bild des sehr alt gewordenen Rechtsgelehrten Carl Schmitt. Schmitt, der immer gerne aus diesen leicht falschen Gründen verehrt wird. Schmitt, wie sein Gehirn langsam aber unumkehrlich sich der Nacht zuwendet. Und wie er sein ihn selbst und seinen Ruf wohl noch lange überlebendes total-politisches Bonmot von der Souveräntät und vom Ausnahmezustand, selbst in einer Welt lebend, die er nicht mehr verstanden haben mag, radikal erweiterte. Vielleicht ahnte er nicht einmal, wie nah seine Altersparanoia ihn an die Wahrheit, unsere heutige Wahrheit, geführt hatte. Nun, dieser Carl Schmitt wird zitiert mit den Worten:

“Nach dem ersten Ersten Weltkrieg habe ich gesagt: ‘Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet’. Nach dem Zweiten Weltkrieg, angesichts meines Todes, sage ich jetzt: ‘Souverän ist, wer über die Wellen des Raumes verfügt.’”[1]

Die Wellen des Raumes also. Der Schall, die Radiowellen, das langsame Pulsieren des Globus, jener großen subsonischen Basstrommel; meinethalben auch das Donnern der Somme-Schlacht, das die englische Familie in Hampstead Heath nicht überhören konnte, und heute, über allem, das leider unhörbare Surren der Wireless LAN-Kommunikation.

All dies Wellen des Raumes. Als Greis also soll Schmitt so einmal gesprochen haben, und er nahm um Jahrzehnte die jetzt virulente, angstvolle und unheilschwangere Stimmung der querulatorischen Gymnasiallehrer und Alternativmediziner, der Globalisierungsgegner und Total-Aussteiger vorweg.

Aber auch ganz bei Trost kann man sich an Schmitts Diktum und an seiner Wahrheit erfreuen, und wenn wir unsere Späße über die großen Ingenieursleistungen der totalen Einwicklung machen, so bleibt es doch wahr: Längst ist es nicht mehr das Land, auf dem ich stehe, sondern es sind ebendiese Wellen des Raumes, jene die ich verstehen und dekodieren kann, im Radio, im Fernsehen, am Mobiltelefon, genauso wie jene, mit denen mein Gehirn scheinbar nichts anzufangen weiss, auf denen mich mein Schicksal ereilt. Please keep all electronic devices switched off during our flight.


[1] Zitiert nach Christian Linder (2005), Freund oder Feind, Lettre International, 68: 95. Zeitlebens habe Schmitt Angst vor Wellen und Strahlen gehabt. Radio oder Fernsehen ließ er Berichten zufolge in seiner Wohnung nicht zu, damit nicht “Ungebetenes wie Wellen oder Strahlungen” in seinen Raum eindringen konnte. Schon in der Nazizeit habe, wenn jemand eine Rede des Führers habe hören wollen, ein Radio ausgeliehen werden müssen. Cf. Linder, p. 84

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Friday, August 08, 2008

Why the Olympics will not take place

Weit entfernt, in einem Land, von dem ich nicht wissen kann, ob es wirklich existiert, so wirklich wie die Wiese vor meinem Balkon—dort haben sie heute ein Fest der Völker eröffnet, ist das ein Wort von Riefenstahl?, da muss man ja immer aufpassen.

Dort, weit entfernt also, heisst es, gebe es ein Vogelnest, so nennen es alle ganz repetitiv, und ein schlauer bärtiger Künstler, der auch gerne mit deutschen und amerikanischen Zeitungen spricht, erzählt von seinem Nest und von dem Land, in dem es steht, und wie er mit den lustigen zwei Schweizern es sich ausgedacht hat.

Und ich fände es nun prima, wenn mein Onkel Baudrillard anrufen würde, und wir würden uns in seinem wunderschönen Deutsch, das mich immer an Tommi Ungerer erinnert, über das unterhalten, was wir da “live” auf unseren Fernsehgeräten sehen. In Amerika, das gibt es, dort war ich schon, dort jedenfalls werden sie die Bilder sogar mit großem stundenlangen Zeitversatz zeigen, und während ein deutscher Reporter dies etwas hämisch und irgendwie anti-amerikanisch bemerkt, “live” aus Peking, gibt es einen halbsekündigen infernalischen Wiederhall, ein sogenanntes Feedback, und ich sage zu Baudrillard, ob er auch dieses Hallen gerade gehört habe, da hätten sie wohl gerade ein neues Patch in die Matrix eingespielt, und wir lachen.

Dann schlafe ich ein bisschen, ich nicke so weg, über einem Buch über Franz Gsellmanns Weltmaschine, und alles macht auf einmal Sinn, als Onkel Baudrillard noch einmal anruft. Ob ich ich die ganzen sogenannten “mündigen Athleten” gesehen habe, die seit 05 Uhr 45 zurückschossen. Tatsächlich, nicht mehr Winken und Sich ablichten lassen; nein, mit Digitalkameras bewehrt, aufs Display ihrer Geräte schauend, während sie in Horden durch das Vogelnest schreiten, filmen und photographieren sie selbst das Stadion, die Klaqueure, die Staatschefs, die Kameras, uns an den Geräten in der wirklichen Welt.

Mir ist leicht zumute, und ich laufe aus dem Haus.


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Tuesday, August 05, 2008

A crystal of time (lost, and found, on my hard disc)



†) Anm.: Wenn ich wüsste, was sentimental genau bedeutet, könnte ich Ihnen mit größerer Bestimmtheit sagen, ob dieses Fundstück, das seit 2006 auf meiner Festplatte lebt und pulsiert, auch wenn man es nicht zum Leben erklickt, in einem Moment der Sentimentalität entstand.

Sicher weiss ich nur, dass ich unter Kopfhörern, in einer kleinen möblierten Hölle in Camden, UK, immer wieder Herrn Distelmeyers und Herrn Rattays hynoptischer siebenminütiger Schleife aus E-Moll nachspürte; wie eine Katze, die ja auch nicht weiss, wieso sie stets mit den Augen gebannt dem Spielzeug hinterherstarrt. Ein Zeitkristall.


Dieser Beitrag ist auf Englisch, doch einiges an der Zeitmauer gibt es auch in der hervorragenden Kultur- und Verwaltungssprache Deutsch zu lesen. Das gezeigte animierte .gif ist eine nicht-authorisierte Übersetzung und Adaption dieses Musikstücks.

Monday, August 04, 2008

Verstandsanzeiger (Marginalien-Band)

Editorische Notiz: Dies ist der Versuch einer Entschlüsselung des letzten Beitrags, einer dieser immer so—auch für den Autor—rätselhaften Eingebungen von Listen:

1. David Sylvian. Red Guitar, Brilliant Trees. Führt uns direkt zu

2. Holger Czukay, eine Art Weltmaschinist, aber ist nicht

3. Franz Gsellmann es, bei dem alles rattert und brummt, aus diesem kleinen Mann heraus?, was mich an

4. Justo Gallego Martínez denken lässt, der seit vierzig Jahren eigenhändig eine, seine Kathedrale zimmert; das lässt mich noch mutloser auf den Haufen Papier auf meinem Tisch starren. Nur

5. Prefab Sprout die ich immer mit

6. Belle and Sebastian verwechsle, können jetzt noch helfen, und es ist als ob

7. Steve Jansen mit seinem Schlagwerk auf Brilliant Trees mein stolperndes Herz imitiere, ähnlich wie vor ihm dies nur

8. Manu Katché in seinen weniger eingebildeten Momenten gelang.

9. Ceferino Zena Duarte—Kennen Sie ihn?—geistert durch die Wohnung, und ich denke: Wenn ich nur das Herz hätte, das stolpernde, es selbst endlich aufzubrechen, dann könnten Sie mich vielleicht noch heute abend am Strand von

10. Brighton antreffen, wie ich auf den abgebrannten Pier schaute, ohne Brille und mit

11. Steinen versuchte, die ich ins Meer würfe wie ein kleiner Junge, der der

13. Entropie ein weiteres Schnippchen schlagen und

12. Alles umdrehen und ungeschehen machen wollte, um

14. Zurück in eine bessere, die feige, kleine Welt zu

15. Finden.


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Saturday, August 02, 2008

Verstandsanzeiger

1. David Sylvian
2. Holger Czukay
3. Franz Gsellmann
4. Justo Gallego Martínez
5. Prefab Sprout
6. Belle and Sebastian
7. Steve Jansen
8. Manu Katché
9. Ceferino Zena Duarte
10. Brighton
11. Steine
12. Entropie
14. Zurück
15. Finden



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